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|Thema in ak 659: Corona-Pandemie | Soziale Kämpfe

Keine Corona-Pause

Chile war in den vergangenen Monaten Schauplatz eines Aufstandes, Covid-19 kommt der Piñera-Regierung da sehr gelegen - die Revolte aber geht weiter

Von Regina Antiyuta und David Rojas Kienzle

»Gesundheit ist ein Recht«, erinnern Demonstrant*innen. Die Pandemie trifft in Chile auf ein ohnehin schon überlastetes Gesundheitssystem. Foto: FRENTEFOTOGRAFICO

Die Bilder könnten unterschiedlicher kaum sein. »Als ich heute zu meinem Haus zurückkehrte, ging ich an der Plaza Baquedano vorbei, stieg für ein paar Minuten aus, um eine Gruppe von Carabineros und Militärs zu begrüßen, die den Verkehr lenkten, machte ein Foto und setzte meinen Weg fort«, twitterte Chiles Präsident Sebastián Piñera am 4. April. Knapp einen Monat zuvor, am 8. März, hatten sich auf der zentral in der Hauptstadt Santiago liegenden Plaza Baquedano noch Millionen Frauen zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes versammelt. Genauso wie überhaupt seit dem Beginn der landesweiten Proteste gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell die Plaza, von den Chilen*innen zur Plaza Dignidad, dem Platz der Würde, umbenannt, zu dem Ort, dem Symbol der Proteste geworden war. Piñera war dort unerwünscht. Seit der Corona-Pandemie kann er, gegen den sich die Proteste richteten, sich dort wieder blicken lassen.

Es ist kein Zufall, dass sich Piñera an einem Freitagabend ablichten ließ, waren doch die Proteste bis zuletzt freitags immer am heftigsten. Der chilenischen Regierung kommt diese Pandemie sehr gelegen: Der nicht kontrollierbare Aufstand der letzten Monate konnte so scheinbar auf einen Schlag beendet werden. Am 19. März wurde der Katastrophenzustand ausgerufen; Treffen von mehr als 50 Personen sind seitdem verboten. Noch in der selben Nacht ordnete die Regierung an, die Plaza Dignidad zu säubern; die auf die Baquedano-Statue gemalten Slogans wurden übermalt und auch die drei Skulpturen, die im Dezember zu Ehren der in Chile lebenden indigenen Völker Mapuche, Diaguita und Selknam aufgestellt worden waren, wurden zerstört sowie ein Zaun errichtet.

Diese Geste starker symbolischer und politischer Gewalt markierte die erste Nacht des Katastrophenzustands, in der es vorrangig darum ging, zu versuchen, die monatelange Revolte, in der sich eine subversive Erinnerung aufgebaut hat, auszulöschen. Denn außer dem Verbot von Demonstrationen blieb alles andere beim alten. Einkaufszentren, Konsumtempel für die Chilen*innen mit dem nötigen Kleingeld, blieben geöffnet, gearbeitet werden muss überall. Während Einkaufszentren mittlerweile geschlossen sind, sind die U-Bahnen in der Hauptstadt wie immer brechend voll, an einen Mindestabstand ist hier nicht zu denken.

Verfrühte Siegerpose des Präsidenten

Der Ausbruch der Corona-Pandemie markiert allerdings nicht nur eine Zäsur bei den Protesten, er wirft auch ein Schlaglicht auf die vielen Probleme, wegen derer überhaupt protestiert wird: eine unfähige herrschende Klasse und Regierung, das neoliberale Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, und vor allem die unzureichende medizinische Versorgung werden – kaum vorstellbar – noch sichtbarer. Eine der am heftigsten kritisierten Maßnahmen ist ein Erlass vom 26. März des Arbeitsministeriums. Demnach haben Arbeitgeber das Recht, die Löhne von Arbeitnehmer*innen, die auf Grund einer angeordneten Quarantäne oder wegen der verhängten nächtlichen Ausgangssperre nicht zur Arbeit kommen können, einfach nicht zu zahlen. Generell ist Schätzungen zufolge ein knappes Drittel der Chilen*innen im informellen Sektor tätig, wird also komplett ohne Einkommen sein, sollten härtere Maßnahmen wie eine komplette Ausgangssperre beschlossen werden.

Die kommende Pandemie trifft auf ein sowieso komplett überlastetes Gesundheitssystem. 2018 etwa starben nach Regierungsangaben 26.000 Menschen, die auf eine Behandlung warteten. Bis zum 9. April waren nach offiziellen Angaben bereits 59 Menschen an Covid-19 gestorben, 5.972 waren infiziert. Die Situation gleicht der in europäischen Ländern, wo man sich angesichts zunächst geringer Fallzahlen in Sicherheit wähnte. Dabei wird schon jetzt deutlich, dass die landesweit 1.000 Beatmungsbetten, die sich vor allem in der Hauptstadt befinden, bald nicht mehr ausreichen werden. »Wenn diese Beatmungsgeräte nicht kommen, wird sich dieses Krankenhaus in eine Leichenhalle verwandeln,« erklärte etwa Rodrigo Díaz, Chef des Krankenhauses im südlichen Curanilahue, das bis zum Ausbruch der Corona-Krise ohne jegliche Beatmungsgeräte auskommen musste.

Potenziell tödliche Konsequenzen haben auch die Gefangenen der Revolte zu fürchten. In den chronisch überfüllten Gefängnissen Chiles sitzen tausende während der Proteste der vergangenen Monate Festgenommene in Untersuchungshaft. Die Spannung in den Gefängnissen steigt immer weiter, auch weil Besuche verboten sind. »Es kommen nur Pakete rein, keine Besucher, die Stimmung ist zu sehr von Angst geprägt für die Gruppe der Familien, wir sind alle sehr verzweifelt«, so Carola, Mutter eines politischen Gefangenen. Die hygienischen Bedingungen unter denen die Gefangenen leben, sind katastrophal, ebenso die medizinische Versorgung. Am 6. April traten deswegen die Gefangenen der Revolte im Gefängnis Santiago 1 in den unbefristeten Hungerstreik. In einem Kommuniqué fordern sie eine »Grundausstattung zur Verhinderung einer Ansteckung, da wir in unserem Zustand aufgrund der Überbelegung einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind.«

Genauso wie im Knast regt sich nach einer ersten Schockstarre angesichts von Corona erneut Widerstand. Piñeras Siegerpose auf dem Platz der Würde war verfrüht. Denn obwohl es nicht mehr möglich ist, legal auf der Straße zu demonstrieren, ist der Aufstand nicht vorbei. Das fängt mit der Solidarität an. Es gibt Unterstützungs- und Selbstversorgungsnetzwerke in den Nachbarschaften. Einige Gemeinden haben sich organisiert und Lebensmittelsammelstellen eingerichtet, um diese später unter den Nachbar*innen zu verteilen, die aufgrund der Quarantäne ohne Einkommen geblieben sind. Die Menschen verstehen, dass sie individuell nicht in der Lage sein werden, die Krise, die Chile durchmacht, zu bewältigen, und dass alles darauf hindeutet, dass sie sich in den kommenden Wochen verschärfen wird.

Bewohner der Insel Chiloé errichteten Straßensperren, um Verkehr zu verhindern.

Aber auch auf der Straße protestieren trotz Katastrophenzustand die Chilen*innen weiter, kleiner und kreativer. Gerade in der Peripherie, beispielsweise in den nördlichen Städten Iquique und Antofagasta, gibt es immer wieder direkte Aktionen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Aber auch in Santiago geht der Protest weiter. Am 29. März etwa wurde der Tag des jungen Kämpfers begangen, an dem an die Ermordung zweier junger Widerstandskämpfer gegen die Militärdiktatur 1985 gedacht wird. In Santiago gab es Straßenschlachten mit der Polizei, Barrikaden wurden errichtet. Feministische Organisationen riefen dazu auf, von den Balkonen und Fenstern Bilder der Diktatur und der aktuellen Revolte zu projizieren und so den Staatsterrorismus von gestern und heute anzuprangern »Auf dass das Gedenken die Quarantäne erleuchtet« war das Motto. Die zu projizierenden Videos wurden in sozialen Netzwerken ausgestrahlt. Am selben Tag wurde zu diesem Zweck eine virtuelle Totenwache abgehalten.

Virtuelle Protestformen

Überhaupt wird der virtuelle Raum von den Chilen*innen immer stärker genutzt. In verschiedenen Chatgruppen kann man diskutieren und sich darüber informieren, wie der staatlichen Politik, die die Prekarität in dieser Krise verstärkt, begegnet werden kann. So stellte die Gruppe von Anwälten der defensoría popular, einem spendenfinanziertem Anwaltskollektiv, das pro bono verteidigt, zwei ihrer Anwälte zur Verfügung, um in einer offenen virtuellen Sitzung zum Thema Arbeitsschutzrecht zu diskutieren und anzuleiten.

Und in Regionen, die bisher noch nicht von Corona betroffen sind und wo die Gesundheitsversorgung noch prekärer ist, organisieren sich Menschen und setzen selbst Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung durch. Die Bewohner*innen der Insel Chiloé etwa verhinderten mit Straßensperren, das außer Lebensmittellieferungen Verkehr auf die Insel kommt. Die Straßensperren wurden zwar mit Polizeigewalt aufgelöst, der Personenverkehr ist aber trotzdem zum Erliegen gekommen. Auch in San Antonio, einer Region, in der viele wohlhabende Chilen*innen Ferienhäuser haben, wurden solche selbstorganisierten Straßensperren errichtet, um diese von der Region fernzuhalten.

Der Platz der Würde hat also sein rebellisches Antlitz nicht verloren. Piñera selbst saß während seiner missglückten Fotoaktion direkt neben einem riesigen Graffito auf dem »Piñera raus!« stand. Im übrigen desinfizierten Aktivist*innen die Stelle, auf der der Präsident saß, mit Chlor und filmten sich dabei. »Unser Platz ist wieder normal, unser Platz ist frei von dem Virus. Hoch mit den Kämpfern!« Die Revolte in Chile macht keine Corona-Pause.

Regina Antiyuta

ist Autorin und lebt in Santiago und Berlin.

David Rojas Kienzle

David Rojas Kienzle ist freier Journalist und Aktivist.