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|Thema in ak 659: Corona-Pandemie

Die Situation ist nicht »offen«, sondern scheiße

In der Corona-Krise sehen manche Linke eine Chance – vielleicht aus Vergesslichkeit?

Von Jan Ole Arps, Paul Dziedzic und Nelli Tügel

Eine Frau in USA-Fahnen-Kleid hält ein Schild hoch, auf dem steht "Social Distancing = Communism"
Diese Trump-Supporterin hat ähnliche Erwartungen wie manche Linke in die Möglichkeiten der Corona-Krise. Foto: Twitter

Während Wirtschaftsverbände und liberale Kommentator*innen schon die Rückkehr zur Normalität fordern, diagnostizierten viele linke Beobachter*innen in den letzten Wochen eine wegen der Corona-Krise gänzlich neue und »offene Situation«. Die Aushandlung der Gesellschaft nach Corona beginne jetzt, nun komme es darauf an, positive Tendenzen wie den Ausbau des öffentlichen Gesundheitssystems, ein planvolleres Wirtschaften und gesellschaftliche Solidarität zu verstärken. Doch diese Appelle übertünchen nur die eigene Rat- und Hilflosigkeit. Denn bislang kann niemand sagen, wer die geforderten Verbesserungen inmitten von Lockdown und Quarantäne überhaupt durchsetzen soll. Statt sich mit (publizistischem) Aktionismus selbst zu blenden, wäre jetzt die Zeit, aus linken Fehlern in vergangenen Krisen zu lernen.

Die Corona-Pandemie erscheint wie ein Brennglas für die gesellschaftlichen Verhältnisse: Sie führt die Missstände im Gesundheitswesen ebenso vor Augen wie das Versagen des Marktes bei der Bewältigung von Krisen. Sie dokumentiert einmal mehr die immense Verletzlichkeit armer und rassistisch deklassierter Menschen, sie belegt die Hölle in den Gefängnissen und Flüchtlingslagern.

Auch die Rechte hat sich, wo sie an der Macht ist, so verhalten, wie zu erwarten war: Rechte Regierungschefs haben zunächst alle wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriert und die Gefahren durch das Virus geleugnet (USA, Brasilien), sich der Fantasie von Stärke und Unbesiegbarkeit hingegeben, ihre Verachtung für Schwache und Verwundbare demonstriert (Boris Johnson setzte zunächst auf schnelle »Durchseuchung« und schüttelte fleißig Hände in Krankenhäusern, bevor er selbst zum Covid-19-Patienten wurde). Viele Regierungen haben, legitimiert durch die Epidemiebekämpfung, ihre repressiven Kapazitäten erweitert, Grundrechte eingeschränkt oder gar, wie Viktor Orbán in Ungarn, per Notstandsdekret das Parlament entmachtet und sich zum Alleinherrscher aufgeschwungen.

Aber auch in Staaten, die sich weniger offen zur kapitalistischen Menschenfeindlichkeit bekennen, ist die Bilanz erdrückend. Italien und Spanien, deren Gesundheitssysteme durch die EU-verordnete Austeritätspolitik kaputt gespart wurden, erleben ein Massensterben in den Krankenhäusern. Man konnte die Katastrophe nicht kommen sehen? Falsch. Die Wissenschaft warnt seit Jahren – nicht nur vor dem Klimakollaps, sondern auch vor der Gefahr durch Seuchen. Allein, die Warnungen wurden ignoriert, weil sie, wie beim Klimaschutz, Maßnahmen erfordert hätten, die im Widerspruch zu den Profitzielen der Unternehmen stehen.

Erinnerung an die letzte Krise

Inzwischen steht in vielen Ländern das gesellschaftliche Leben still, die Produktion pausiert oder läuft auf Sparflamme, auch viele Geschäfte bleiben geschlossen. Austerität und Sparvorgaben sind passé, Staaten haben Milliarden in die Hand genommen, um Unternehmen zu stützen, und den Zugang zur Arbeitslosenhilfe erleichtert. Autofirmen produzieren vorübergehend Atemmasken und Schutzbekleidung, es wird laut über Verstaatlichungen nachgedacht.

Solche außergewöhnlichen Maßnahmen regen die politische Vorstellungskraft an. Man fragt sich, warum die Dinge nicht auch sonst vernünftiger geregelt werden, ob sich hier nicht ein Zeitfenster für den Umbau der Wirtschaft gemäß dem gesellschaftlichen Bedarf öffnet. Genau hier docken die eingangs beschriebenen Appelle an.

eine beleuchtete Stadt und leere Strßenkreuzung bei Nacht, aus der Luft aufgenommen
Wenn das Leben auf Standby steht, kann man schonmal ins Träumen kommen. Tel Aviv während der Corona-Ausgangssperre an Pessach, April 2020. Foto: Omri Silver, CC BY-SA 4.0

Doch wer sich an die Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 erinnert, wird pessimistischer werden. Auch damals wurden weitreichende Maßnahmen ergriffen, Unternehmen vorübergehend unter staatliche Obhut gestellt und Milliarden in Produktion und Konsum gepumpt. Nach der Krise blieben Schuldenberge – und gewaltige Rückzahlungsforderungen. »Die Reichen sollen für die Krise zahlen« blieb ein frommer Wunsch.

Auch 2008/2009 wurde das Nachdenken über Alternativen zum Kapitalismus bis weit in konservative Medien salonfähig. Doch was folgte, war kein neuer Anlauf zum Sozialismus. Auch wenn wenige Jahre später an vielen Orten der Welt große Protestbewegungen entstanden – Aufstände in den arabischen und nordafrikanischen Ländern, die Diktatoren stürzten, Platzbesetzungen in Europa, Occupy Wall Street in New York –, erfolgreich waren sie selten. Stattdessen würgte die Transformation der Weltwirtschaftskrise in eine Krise der Staatsschulden durch die EU und die Bundesregierung die Aufbruchversuche in südeuropäischen Ländern ab. Die 2008/2009 gemachten »Schulden«, mit denen in Wahrheit die Schulden von Banken und Unternehmen auf die Gesellschaft umverteilt worden waren, wurden zum ultimativen Erpressungsinstrument.

Auch der »arabische Frühling« nahm sein Ende: in Ägypten durch den Coup eines neuen Militärdiktators, in Syrien durch Assads Strategie des Massakers, die den Aufstand in einen der blutigsten und längsten Bürgerkriege der jüngeren Geschichte verwandelte. Diese historische Niederlage der Linken begünstigte den Siegeszug des Rechtspopulismus, nicht nur in Europa. Hoffnung auf eine Überwindung machten die neuen Bewegungen, Revolten und Aufstände des Jahres 2019 – doch diese finden in den meisten dieser Tage veröffentlichten linken Analysen keine Erwähnung mehr.

Die Corona-Hilfen sind ein gigantisches Umverteilungsprogramm ans Kapital.

Dass Linke die Niederlagen der Zeit nach der letzten großen Krise bis heute nicht politisch verarbeitet haben, ist ein schweres Versäumnis. Wenn in der Corona-Krise jetzt wieder optimistische Parolen präsentiert werden, als hätte es die Erfahrungen der letzten zehn Jahre nicht gegeben, droht sich das Trauma zu wiederholen.

Was wir über die Zeit nach Corona sagen können

Die Situation ist zwar ungewohnt, aber keinesfalls »offen«. Auch in dieser Krise versucht die Politik, die Interessen »der Wirtschaft« durchzusetzen. Schon jetzt hat die Bundesregierung mit Hunderten Milliarden Euro Unternehmen gefördert; Geld, das sie vor allem durch die Steuerzahlungen der Lohnabhängigen finanziert. Die Corona-Hilfen sind also, genauso wie die Maßnahmen, die 2008/2009 getroffen wurden, ein gigantisches Umverteilungsprogramm ans Kapital: Das Wachstum der Wirtschaft, das Erwirtschaften von Profiten ist gesellschaftlicher Imperativ. Ohne dass Unternehmen Profite machen und Lohnabhängige Steuern zahlen, hat auch der Staat kein Geld, mit dem er welche Maßnahmen auch immer ergreifen kann. Im Kapitalismus bleibt der bestimmende Faktor die Ökonomie, auch wenn sie – für alle eine überraschende Erfahrung – eine Weile auf Standby steht.

Spätestens wenn eine Kalkulierbarkeit des Corona-Virus erreicht ist (durch belastbarere Zahlen über Sterblichkeit und Infektionswege, irgendwann durch Wissen über Behandlungsmöglichkeiten), wird auch dieses Virus wie die jährliche Grippe in den Alltag einberechnet.

Sobald die politische Einschätzung dominiert, dass das Virus »unter Kontrolle« ist, wird die Wirtschaftskrise das alles bestimmende Thema. Längst bereiten Politiker*innen die Bevölkerung auf die bevorstehenden Sparrunden vor: »Die meisten Menschen werden nach der Corona-Krise erstmal ärmer sein«, stellte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) Anfang April fest. Gleichzeitig kündigte er an, die Ausgaben des Landes für die Corona-Hilfen binnen zehn Jahren durch Einsparungen im Landeshaushalt wieder reinholen zu wollen: »Geld fällt ja nicht vom Himmel.« Da hatte der ebenfalls in Baden-Württemberg ansässige Daimler-Konzern, genau wie seine Mitbewerber BMW und VW, schon angekündigt, Milliarden-Dividenden an Aktionär*innen auszuschütten. Ein Großteil der Beschäftigten der deutschen Autokonzerne sind spätestens seit April in Kurzarbeit; die Kurzarbeitsentgelte zahlt – wie auch bei den 650.000 anderen deutschen Unternehmen, die Kurzarbeit beantragt haben – die Bundesagentur für Arbeit.

Die große Betriebsamkeit, die unter Linken ausgebrochen ist, ist in erster Linie ein Versuch, dem Gefühl der Ohnmacht zu entgehen, den Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit zu kompensieren.

Um vor allem im Interesse der Wirtschaft eine möglichst zügige Rückkehr zur Normalität zu ermöglichen, werden nun die ersten Beschränkungen gelockert. Hierbei sollen neue Überwachungs- und Kontrollinstrumente über die Mobilität der Bevölkerung und weitgehende Beschränkungen von Versammlungen und Zusammenkünften außerhalb der Lohnarbeit helfen. Auch das Arbeitsrecht gerät unter Beschuss, wie sich in den »systemrelevanten« Sektoren zeigt, wo, wie in Krankenhäusern, Arbeitszeitbeschränkungen geschliffen geschleift und Personaluntergrenzen aufgehoben werden.

Für Linke ist all das keine große Chance, sondern eine große Gefahr. Wir verfügen weder über alternative Vorschläge zur Bewältigung der Epidemie, noch – dank des Verbots öffentlicher Versammlungen – über Mittel, egal welchen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die große Betriebsamkeit, die unter (publizierenden) Linken ausgebrochen ist, ist in erster Linie ein Versuch, dem Gefühl der Ohnmacht zu entgehen, den Verlust der eigenen erlebten Handlungsfähigkeit zu kompensieren.

Was können wir stattdessen tun?

Natürlich ist das Experimentieren mit neuen Formen von Protest und der Versuch, sich in der öffentlichen Debatte Gehör zu verschaffen, wichtig. Doch statt in hilflosen Aktionismus zu verfallen, wäre zunächst Innehalten geboten. Die Analyse der eigenen Lage und vergangener Erfahrungen sind jetzt Voraussetzungen dafür, Felder zu benennen, in denen Geländegewinne für linke, emanzipatorische und soziale Politik möglich sind.

Jede neue Lage trifft auf Erfahrungsräume, die durch vergangene Situationen und ihre Verarbeitung geprägt sind. In Bezug auf die Weltwirtschaftskrise ist in Deutschland das Gefühl verbreitet, durch das Krisenmanagement der Bundesregierung einigermaßen glimpflich davon gekommen zu sein, weshalb auch jetzt das Vertrauen in die Regierung groß ist. In Südeuropa dagegen erinnert man sich an das deutscheuropäische Schuldenregime und an die ausbleibende Solidarität der hiesigen Linken und Gewerkschaften.

Für Antworten auf die Corona-Krise in Europa müsste daraus folgen, die nationale Beschränkung linker Krisenpolitik zu vermeiden und von Anfang an Netzwerke für die Organisierung über Ländergrenzen hinweg zu knüpfen. Denn die Politik nach Corona wird in einem noch stärker national zerrütteten Europa stattfinden, in dem deutsche Kapitalinteressen aber weiterhin dominant sein werden. Bisher scheint sich in den deutschen Gewerkschaften allerdings wieder der krisenkorporatistische Schulterschluss mit den Unternehmen anzukündigen. Ihre Tarifrunden haben sie ausgesetzt oder verschoben. In Zeiten des Stillstands lässt es sich schlecht streiken, und bei Protesten im Gesundheitsbereich oder in der Lebensmittelproduktion befürchtet man einen öffentlichen Aufschrei.

Wenn es um Erfahrungsräume geht, ist auch ein Blick auf die Aufstände und Protestbewegungen ratsam, die im letzten Jahr viele Länder erschütterten: Chile, Ecuador und Haiti, Guinea und den Sudan, Indien, Hongkong, den Iran, Irak und den Libanon, ansatzweise auch Frankreich. Auch wenn viele Proteste seit Beginn der Corona-Maßnahmen ebenfalls pausieren: Sind in ihnen organisatorische Strukturen, Erfahrungen und Solidaritätsnetze entstanden, die helfen können, Antworten auf den Lockdown zu finden? Wie reagieren die feministischen Bewegungen? Wie gehen die Selbstverwaltungsstrukturen in den kurdischen Gebieten mit der Bedrohung durch die Pandemie um?

In den USA hat es bereits wilde Streiks gegen fortgesetzte Ausbeutung trotz der Corona-Gefahr gegeben, etwa in der Autoindustrie, der Lebensmittelproduktion, im Transportwesen oder bei Amazon. Das dürfte mit der gewerkschaftlichen Aufbauarbeit der letzten Jahre und der darin erworbenen Handlungsfähigkeit zu tun haben. Wenn das stimmt, was lässt sich daraus lernen? Bleibt irgendetwas von den Wahlkampagnen für Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, denen, als sie erfolgreich waren, auch viele Linke in Deutschland zujubelten? Und hierzulande: Wie können die Erfahrungen an Orten mit starker Mieterbewegung jetzt helfen, solidarische Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen? In Spanien kursierten bereits Aufrufe für einen Mietstreik. Können die hiesigen Mieterproteste davon lernen? Was hat sich in den jahrelangen Pflegestreiks und Kämpfen im Gesundheitswesen bewährt, was nicht?

Wenn es für die Linke eine Chance durch Corona gibt, dann die Fixierung auf Output zu überwinden und solidarischere Beziehungsweisen zu entwickeln.

Schließlich zeigt sich in den bisherigen linken Antworten auf Corona auch ein Mangel der eigenen Beziehungsformen. Statt die tausendste Analyse zu Corona rauszuhauen und sich am trügerischen Gefühl des eigenen Tätigkeitseins zu beruhigen, brauchen wir eine Auseinandersetzung über einen emanzipatorischen Umgang mit Ängsten, Wünschen, Trauer, mit Beziehungen und Bedürfnissen in Zeiten der Einsamkeit. Hierfür gibt es bisher kaum Beispiele, und so zeigt sich, dass die oft beklagte gesellschaftliche Abwertung von Care- und Sorgetätigkeiten ihre Entsprechung im linken Denken und Handeln findet.

Ein guter Zeitpunkt, um von den Erfahrungen zu lernen, die marginalisierte Gruppen, depressive oder andere kranke Menschen mit emotionaler und praktischer gegenseitiger Hilfe und dem Umgang mit Einsamkeit und Isolation haben. Wenn es für die Linke eine Chance durch Corona gibt, dann die Fixierung auf Output zu überwinden und solidarische Beziehungsweisen zu entwickeln, die auch Krisen überstehen können.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.