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Zählen allein hilft nicht

Erstmals wurden in einer deutschen Großstadt obdachlose Menschen erfasst

Von Claudia Krieg

Im Frühsommer 2021 soll die nächste Zählung stattfinden. Das gab Berlins linke Sozialsenatorin Elke Breitenbach zusammen mit den ersten Ergebnissen der bundesweit ersten Obdachlosenzählung am 7. Februar bekannt. Breitenbach war Hauptinitiatorin der sogenannten Nacht der Solidarität, die eine Woche zuvor nach Pariser Vorbild durchgeführt worden war. (1) Etwa 2700 freiwillige Helfer*innen waren vier Stunden lang durch die zuvor in 615 Zählräume aufgeteilten zwölf Bezirke der Hauptstadt in deren öffentlich zugängliche Bereiche gelaufen. Sie hatten die Aufgabe, alle Menschen, die deutlich sichtbar auf den Straßen Berlins nächtigten, zu zählen und wenn möglich zu einigen wenigen Details ihrer Situation zu befragen. Der Verhaltenskodex für die Zähler*innen war strikt – alles sollte freiwillig und zurückhaltend stattfinden, niemand sollte geweckt werden.

Viel wurde in den vergangenen Jahren über die Zahl obdachloser Menschen auf den Berliner Straßen spekuliert. Immer mehr Menschen verlieren in der Hauptstadt des Mietenwahnsinns ihre Wohnung, bis zu 4.000 Zwangsräumungen werden hier pro Jahr durchgesetzt, in Hotspots wie der Rummelsburger Bucht in Lichtenberg richteten sich unterschiedliche Gruppen von Obdachlosen in Camps ein. In den vergangenen Wintern campierten Dutzende Menschen nachts in den »Kältebahnhöfen« der S-Bahn. Immer mehr Familien und Frauen seien darunter, hieß es. Auch immer mehr EU-Bürger*innen landen auf der Straße, weil sie nicht in den Anspruch von Sozialleistungen kommen – sie werden für Arbeiten angeworben, die kein reguläres Beschäftigungsverhältnis darstellen. Den Menschen fehlen die Nachweise, die sie brauchen, um Arbeitslosengeld zu beantragen und/oder eine Wohnung zu suchen. So ist es kein Wunder, dass die Schätzungen zu obdachlosen Menschen in Berlin zwischen 2.000 bis zu 20.000 schwankten.

Viele nicht erfasst

Am Ende wurden in der Nacht der Solidarität 1976 obdachlose Menschen gezählt: 807 Menschen wurden im öffentlichen Raum registriert, 15 obdachlose Menschen in Rettungsstellen Berliner Krankenhäuser, 158 Obdachlose im ÖPNV, 12 in Polizeigewahrsam. In den Einrichtungen der Kältehilfe wurden 942 Menschen erfasst und 42 in einem Kreuzberger Warte- und Wärmeraum.

Etwa ein Drittel der Menschen hat in einer kurzen Befragung den Zählteams über ihre Lebenssituation berichtet. So waren etwa 56 Prozent der Befragten zwischen 30 und 49 Jahren alt, 113 der 288 Personen gaben bei der Frage nach Nationalität deutsch an, 140 EU-Bürgerschaft, 31 Menschen sagten, sie seien aus EU-Drittstaaten. 39 Personen waren weiblich, 243 männlich, sechs machten dazu keine Angabe. Fast die Hälfte der Befragten teilte mit, dass sie seit mehr als drei Jahren auf der Straße leben würden.

Man werde nach der Auswertung der einzelnen Zählräume mit der Akteuren der Wohnungslosenhilfe überprüfen, welche Hilfsangebote vor Ort verbessert werden müssen, sagte Elke Breitenbach: »Wenn in einem Bezirk beispielsweise nur deutschsprachige Hilfsangebote existieren, aber sich nun herausstellt, dass die meisten Obdachlosen dort rumänisch sprechen, dann ist es kein Wunder, dass diese bisher nicht zusammen gekommen sind«, konkretisierte die Sozialpolitikerin. Auch die große Anzahl der Nutzer*innen des Übernacht-Cafés zeige, dass es mehr solcher Orte brauche.

Susanne Gerull, Professorin der Sozialen Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitinitiatorin der Zählung, erklärte auf zahlreich geäußerte Kritik an der Zählung bei der Vorstellung der ersten Ergebnisse: Natürlich habe man bei der Zählung Menschen, die in Kellern, auf Dachböden, in Kleingartenanlagen oder auf der Couch von Bekannten schlafen, nicht erfasst. Allen sei klar gewesen, dass sich Menschen der Zählung bewusst entziehen – auch weil der Zeitpunkt der Erfassung lange im voraus bekannt war. »Wir haben die gezählt, die keinen Kontakt zu Hilfseinrichtungen haben. Wir konnten mit der Zählung nur die sichtbar im öffentlich zugänglichen Raum lebenden Menschen an einem Stichtag erfassen. Aber für das Ausmaß der versteckten und verdeckten Wohnungslosigkeit kann es nicht die eine Zahl geben«, betonte Gerull. Subjektive Einschätzungen, wie viele Menschen sich womöglich versteckt haben, um nicht gezählt zu werden, so die Armutsforscherin weiter, seien statistisch nicht haltbar: »Eine Hochrechnung ist nicht möglich.«

Auch bei der nächsten Zählung werde man das Vorgehen nicht ändern. Misstrauen solle abgebaut und kein Menschen unangenehm überrascht werden: »Ich will kein Klima der Angst und Verfolgung, ich möchte mit den Menschen in der Stadt zusammenarbeiten und wissen, was sie brauchen«, sagt Elke Breitenbach. Für sie sei wichtig, dass sich mehr Menschen in der Stadtgesellschaft für die Perspektive von Obdachlosen interessierten.

Bis zu 4000 Zwangsräumungen werden in der Hauptstadt des Mietenwahnsinns pro Jahr durchgesetzt.

Das wollen auch die Verbände der Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe. Viele derjenigen, die tagtäglich mit Betroffenen zu tun haben, erklärten die Zählung nur dann für sinnvoll, wenn sich konkrete Maßnahmen daraus ableiten. Man kann Berlins Sozialsenatorin nicht vorwerfen, dass sie um diese nicht bemüht ist. Drei Strategiekonferenzen Wohnungslosigkeit hat es in den letzten zwei Jahren bereits gegeben, die vierte findet in diesem Frühjahr statt. Die Plätze in der Wohnungslosennotfallhilfe sind deutlich aufgestockt, die völlig überkommenen Leitlinien der Wohnungslosenpolitik stark überarbeitet worden. Das Konzept von Housing First, bei dem Wohnungslose unbefristet und mit einem eigenen Mietvertrag in Wohnraum untergebracht und darüber hinaus professionell betreut werden, gilt als erfolgreich. 

Konkrete Maßnahmen nötig

Auch Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe e.V., lobte schon im vergangenen Herbst »deutliche Fortschritte hinsichtlich der medizinischen Versorgung ohne sozialhilferechtliche Ansprüche«. Rosenke begrüßt außerdem eine Stichtagserhebung der Zahl der Wohnungslosen (Wohnunglosenregister). Der Grund: Wohnungslosigkeit ist untererfasst, wenn nur diejenigen aufgeführt werden, die Leistungen zur Unterbringung in Anspruch nehmen und nicht auch diejenigen, die wohnungslos bei Freunden und Bekannten Unterschlupf finden, die kurzfristig in der Familie verbleiben oder die eben ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben. Am 30. Juli 2019 hatte die BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W) ihre bislang aktuellste Schätzung zur Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland vorgelegt. Die Schätzung bezieht sich auf das Jahr 2017: Im Laufe des Jahres 2017 waren demnach circa 650.000 Menschen (Jahresgesamtzahl) in Deutschland ohne Wohnung, darunter 275.000 Menschen im Wohnungslosensektor und 375.000 wohnungslose anerkannte Geflüchtete.

Aber auch Rosenke macht immer wieder klar: Durch eine Zählung allein ist noch keinem obdachlosen Menschen geholfen. »Die zentrale Frage ist: Gibt es wirklich genügend Anstrengungen, Wohnungslose mit Mietverträgen zu versorgen?«, so die BAG-Vorsitzende. »Wenn beispielsweise der Zugang zu Wohnungen daran geknüpft ist, eigenständig und selbstverantwortlich Lebens- und Haushaltsführung nachweisen zu können, also ohne Unterstützung zu leben, dann ist das problematisch«, so Rosenke. »Man kann nicht Housing First machen und dann sagen, das müssen die Leute allein hinbekommen.« Rosenke findet eine fortgesetzte aufsuchende Sozialarbeit effektiver und fordert regulär mehr Unterstützung für von Wohnungslosigkeit betroffene und bedrohte Familien und Kinder.

Kritik von Selbstvertretungen

In Berlin kritisieren vor allem Selbstvertretungen oder Aktivist*innen die Erfassungsversuche. Ein Großteil der Menschen auf der Straße sei krank oder traumatisiert, beschreibt Jan Markowiak, der selbst zehn Jahre wohnungslos war und nun in einem sozialkulturellen Treffpunkt für Wohnungslose arbeitet. Für viele Betroffene sei es deshalb schwer, in Notunterkünften zu schlafen. »Die Stimmung ist angespannt. Kranke Menschen sind anstrengend, manche schreien herum, andere haben Angst um ihre Sachen.« Diesen Stress könnten viele Betroffene nicht auf sich nehmen und suchten sich daher lieber ihre eigenen Plätze.

Die zur Verfügung stehenden Notübernachtungsplätze sind auch in Berlin selten ausgelastet. »Viele verstecken sich«, sagt Markowiak, »keiner weiß, wie viele es sind.« Auch Markowiak ist dem »Wohnungslosenparlament in Gründung« beigetreten, das Betroffenen helfen will, sich zu organisieren und Forderungen an die Politik zu stellen. Dieses nahm die Nacht der Solidarität zum Anlass, eine Mahnwache vor dem Roten Rathaus abzuhalten. Dort wurde an die Menschen erinnert, für die es keine offizielle Statistik gibt: Kältetote, Opfer von Zwangsräumungen, Menschen, die aufgrund ihrer Situation Suizid begehen. Unter dem Motto »Zwangsräumungen verhindern – Vorher helfen!« sollten die politisch Verantwortlichen der Berliner Landesregierung damit aber vor allem daran erinnert werden, dass Artikel 28 der Berliner Landesverfassung – »Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum« – endlich umgesetzt werden muss.

Claudia Krieg

war ak-Redakteurin und arbeitet heute bei der Tageszeitung neues deutschland.