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Präsidentschaftswahlen in Kriegszeiten

Die afghanische Bevölkerung sehnt sich nach Frieden - die US-Regierung will den Kampf ausweiten

Von Matin Baraki

Zweimal wurden sie verschoben, am 28. September fanden sie dann tatsächlich statt: die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan. Doch auch die Bekanntgabe des offiziellen Endergebnisses wurde zweimal vertagt – bei Redaktionsschluss stand sie noch aus. Das hinderte zwei der 18 Kandidaten freilich nicht, sich unmittelbar nach der Wahl zum Sieger zu erklären: Amtsinhaber Ashraf Ghani und der ehemalige Außenminister des Landes, Abdullah Abdullah.

Beobachter*innen vor Ort sind der Meinung, dass mit der Verschiebung der Verkündung des amtlichen Ergebnisses noch mehr Zeit zum Fälschen gewonnen werden sollte. Zugunsten von Ghani sind Wahlfälschungen aus 16 Bezirken gemeldet worden. Und es gibt noch weitere Belege für massive Manipulationen des Votums. So wurden mehr als ein Drittel der Wahllokale nicht einmal geöffnet, weil der Staat angeblich nicht für die Sicherheit garantieren konnte. Dabei waren mehr als 100.000 Soldat*innen, Polizist*innen und Geheimdienstmitarbeiter*innen im Einsatz, und weitere 20.000 bis 30.000 standen in Reserve. Afghanische Beobachter*innen sind der Meinung, dass in jenen Bezirken Wahllokale geschlossen blieben, wo Ghanis Konkurrent Abdullah mehr Stimmen hätte bekommen können.

Aber sonderlich gespannt wartete die afghanische Bevölkerung ohnehin nicht auf die Nachricht, ob nun Ghani oder Abdullah die Wahlen gewonnen hat. Sie erhoffte sich nichts von den Wahlen. Es ist ihr einerlei, ob sie überhaupt stattfanden und ob ein Warlord oder eine US-Marionette künftig im Präsidentenpalast sitzt. Die Menschen haben die Nase voll von den korrupten Apparatschiks in Staat, Verwaltung, Justiz, Militär und Polizei, die allesamt von Warlords und ihrer Entourage sowie von den Ameriko- und Euro-Afghanen buchstäblich annektiert worden sind. Unmut gibt es auch über die 180 Millionen US-Dollar, die allein Ghanis Wahlkampf gekostet hat. Wer hat das bezahlt, woher hat er so viel Geld, während Millionen Afghan*innen in Elend vegetieren, fragen sich viele in den sozialen Medien.

Von den 13,5 Millionen wahlberechtigten Menschen haben sich lediglich 9,66 Prozent registrieren lassen, zwei Millionen gaben ihre Stimme ab. Das sind gerade einmal 16,6 Prozent der Wahlberechtigten. Zudem hat die Wahlkommission durch Überprüfungen die Zahl der abgegebenen Stimmen noch einmal auf 1,9 Millionen nach unten korrigiert. Von einer Legitimierung des künftigen Präsidenten am Hindukusch kann keine Rede sein.

Katastrophale Bilanz von Ghani

Wie sieht eigentlich die Bilanz der Amtszeit (2014-2019) des ehemaligen Weltbankmanagers Ghani aus? Bekanntlich hat er außerhalb Kabuls fast nichts zu sagen, geschweige denn eine Kontrolle über das Land. Die Warlords schalten und walten nach eigenem Gutdünken. Bei der Analphabetenrate steht Afghanistan weltweit an der zweiten Stelle. Das Land wird als am ungeeignetsten für ausländische Investitionen angesehen. Auf der Rangliste des Korruptionsindexes ist Afghanistan fast Schlusslicht. Bei der Drogenproduktion, mangelnder Sicherheit für Frauen und Journalist*innen ist das Land weltweit die Nummer 1. Über 72 Prozent der Frauen haben psychische Probleme, circa drei Millionen Menschen sind drogenabhängig, darunter auch Kinder. Über Syrien verlassen die meisten jungen Afghan*innen überwiegend aus der Mittelschicht ihre Heimat. Damit verliert Afghanistan die Kräfte, die für den Wiederaufbau unverzichtbar sind. Rund 75 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Trotz Milliarden Hilfsgeldern ist Afghanistan mit über eine Milliarde US-Dollar verschuldet.

Die Taliban bewegen sich am Hindukusch wie Fische im Wasser. Hier liegt ihre Stärke. Sie sind die einzige bewaffnete organisierte Kraft, die gegen die Besatzer kämpft. Sie kontrollieren ungefähr 60 Prozent des Landes und sind in der Lage, jeder Zeit beliebige militärische Operationen durchzuführen – sogar in der Sicherheitszone in Kabul, wo wichtige staatliche Organe, Diplomaten, internationale Organisationen, westliche Geheimdienste und die NATO ihren Sitz haben. In den Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden, haben sie längst staatsähnliche Strukturen geschaffen, die besser funktionieren als die Kabuler Administration. Ohne die Taliban angemessen am politischen Geschehen zu beteiligen wird es keinen Frieden geben.

Mehr zivile Opfer durch US-Bomben als durch Taliban

Das scheint auch die US-Führung zu wissen. Seit Jahren verhandeln die USA geheim und seit einiger Zeit offiziell mit den Taliban. Ende September waren die Gespräche von Trump aufgrund eines Terroranschlages für tot erklärt worden – kurz vor einem geplanten Geheimtreffen mit Taliban-Vertretern in Camp David, dem Landsitz des Präsidenten. Ende November, während eines Besuchs Trumps in Afghanistan, erklärte der US-Präsident, die Gespräche wieder aufnehmen zu wollen. Die US-Führung beabsichtigt, die Widerständler in die kolonialähnlichen Strukturen am Hindukusch zu integrieren. Die Taliban stellen jedoch für eine Zusammenarbeit den vollständigen Abzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan als Bedingung. Deswegen haben die Verhandlungen, trotz aller optimistischen Verlautbarungen, noch keinen tragbaren Kompromiss ergeben. Wann das der Fall sein wird, wissen die Kontrahenten selber nicht.

Während des Wahlkampfes hatte Donald Trump angekündigt, die Auslandseinsätze des US-Militärs schnell zu beenden. Als Präsident hat er aber den Krieg in Afghanistan verschärft. Bei seiner groß angekündigten Rede zur neuen Afghanistan-Strategie mit dem Titel »Wir werden angreifen« im August 2017 verkündete er, was er in Afghanistan vorhat. Er will den Kampf gegen den unter der Bezeichnung Taliban und Islamischer Staat (IS) subsumierten Widerstand ausweiten. Ziel sei es nun, den Krieg in Afghanistan zu gewinnen, verkündete der Präsident. Dazu werde er aber keine Abzugstermine und auch keine genaue Truppenstärke nennen, »um dem Feind keine Informationen zu geben«.

Die Wahlbeteiligung war gering. Von einer Legitimierung des künftigen Präsidenten am Hindukusch kann keine Rede sein.

Als zweites Element der neuen Strategie sollte die afghanische Regierung mehr Hilfe erhalten, um mit der eigenen Armee gegen die Taliban zu kämpfen. Damit wird die Afghanisierung des Krieges, die von Barack Obama eingeleitet wurde, fortgesetzt. Gleichzeitig soll die Regierung in Kabul dazu gebracht werden, endlich stärker gegen Korruption und Misswirtschaft vorzugehen. Drittens forderte Trump in seiner Rede, Nachbarstaaten wie Pakistan stärker unter Druck zu setzen, damit sie nicht weiter zum Rückzugsort für Taliban und Terroristen werden. Diese Forderung der US-Administration wird von niemandem ernst genommen. Sie wird seit Jahren, wie die tibetische Gebetsmühle, wiederholt, ohne konkrete Maßnahmen.

Es muss betont werden, dass die neue US-Strategie für Afghanistan ein tot geborenes Kind ist, die aus dem hohlen Bauch eines ahnungslosen US-Präsidenten in die Welt gesetzt wurde. Da sie eine Verstärkung der militärischen Eskalation zur Folge hat, muss auch sie scheitern. Laut einem UN-Bericht starben im ersten Halbjahr 2019 mehr Zivilist*innen durch Regierungstruppen und US-Luftangriffe als durch die Taliban. Die Zahl stieg um etwa 30 Prozent auf fast 1.400 Opfer.

Es ist längst an der Zeit, endlich den Frieden am Hindukusch zu afghanisieren. (1) Das afghanische Volk will Frieden. Ausdruck dessen: Als der Präsident Ghani am 12. Juni 2018 für die Feiertage am Ende des Fastenmonats Ramadan eine einseitige Waffenruhe angeordnet hatte, haben selbst der islamisch geprägte Widerstand, Taliban, Haqqani Netzwerk und andere das Angebot sofort angenommen und ihrerseits die Kämpfe eingestellt. Im ganzen Land kam es zu Begegnungen und gemeinsamen Feierlichkeiten zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften, die sich umarmten. »Sie sind unsere Brüder«, sagte eine Soldatin über die Taliban. »Taliban-Kämpfer und Regierungssoldaten lagen sich in Städten und Dörfern in den Armen, feierten drei Tage lang gemeinsam das Ende des heiligen Fastenmonats Ramadan«, hieß es in der Süddeutschen Zeitung. (18.6.2018)

Frieden ist möglich. Ist er auch gewollt? Die Profiteure des Krieges – die NATO und die korrupte, vom Westen eingesetzte und abhängige afghanische Administration – müssen dazu gezwungen werden, den Willen des afghanischen Volkes zu respektieren und den Weg für einen Frieden am Hindukusch ebnen. 

Matin Baraki

lehrte Internationale Politik an den Universitäten Marburg, Gießen, Kassel und Münster sowie an der FHS-Fulda. Er ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg.

Anmerkung:
1) Matin Baraki: Enttäuschte Hoffnungen oder doch eine Perspektive für Afghanistan? in: Henken, Lühr (Hg.): Spannungen, Aufrüstung, Krieg – und kein Ende? Kassel 2017.