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Linke ohne Mehrheit

Die neue spanische Regierung steht vor einer wichtigen Entscheidung

Von Samara Velte

Am 12. November verfolgten viele linke Spanier*innen – ja, es gibt sie – überrascht die Wahlergebnisse im Fernsehen: Knapp zwei Tage nach den Neuwahlen, die mangels Übereinstimmung zwischen den »fortschrittlichen« Parteien stattgefunden hatten, unterzeichneten plötzlich die sozialdemokratische PSOE und die linke Unidas Podemos (UP) eine Regierungsvereinbarung. Dieselben Parteien hatten ein halbes Jahr lang inszeniert, dass solch ein Abkommen unmöglich wäre.

»Was hat sich denn seit den ursprünglichen Wahlen vom 28. April geändert?« fragten sich viele. Immerhin verloren zwischen April und November sowohl PSOE als auch UP Sitze: erstere von 123 auf 120, letztere von 42 auf 38. Die spanischen »linken« Parteien kommen zusammen genommen auf gerade mal 158 Sitze. Um die absolute Mehrheit zu erreichen, hätten sie 176 benötigt. Die Neuwahl hatte also weder die PSOE noch die UP gestärkt.

Extreme Rechte auf dem Vormarsch

Möglicherweise handelte es sich beim improvisierten Abkommen auch um eine Folge des Bewusstseins dieser politischen Schwäche. Denn am meisten zugelegt hat die rechtsextreme, neofaschistische Partei Vox, die im April zum ersten Mal mit 24 Sitzen in den Kongress einzog und nun nach der Neuwahl sogar die drittstärkste parlamentarische Kraft geworden ist, gleich nach der PSOE und der traditionell rechten PP.

Damit hat sich die Tür für die neu legitimierte extreme Rechte geöffnet, die sich mittlerweile ohne Hemmungen äußert. Jetzt sind es nicht nur die Erben Francos, die seit den 1970er Jahren ihr Image modernisieren mussten – zuerst in Form der PP und später der Ciudadanos – sondern auch die expliziten Faschisten, angeführt von Santiago Abascal, die zu ihren Unterstützerinnen Mitglieder der Falange zählen. Die Falange ist eine faschistische Bewegung, die im frühen 20. Jahrhundert gegründet wurde und eine führende Rolle beim Putsch und der anschließenden Franco-Diktatur spielte. Anhängerinnen von Vox rühmen Franco öffentlich; die Partei verwendet Slogans wie »Gewalt hat kein Geschlecht«, um feministische Positionen anzugreifen, organisiert Kampagnen gegen unbegleitete minderjährige Migrant*innen, fordert, dass verschiedene Formen von Regionalautonomien unterdrückt und Volksabstimmungen gesetzlich verboten werden. In der Nacht des 10. November hörte man sie »A por ellos, oe« (»Auf sie los«) singen, während sie die Wahlergebnisse feierten. Das verdeutlicht, was ihre Werte sind: Intoleranz und Unterdrückung.

Gleichzeitig, mehrere Straßen entfernt, musste Präsident Pedro Sánchez (PSOE) seiner eigenen Basis gegenübertreten, die ihm »Nicht mit Casado« (PP) zurief, genau so, wie sie nach den Wahlen im April »Nicht mit Rivera« (Ciudadanos) gerufen hatte. Die Parteibasis der PSOE, die traditionell linker ist als ihre Eliten, traute dem Präsidenten nicht: Sie befürchtete, er könnte Allianzen im rechten Lager suchen, mit dem Ziel, nur mit einem einzigen, starken Verbündeten zu verhandeln. Im April wäre es Albert Riveras Ciudadanos gewesen, damals noch drittstärkste parlamentarische Kraft und eine »besser aussehende« Rechte als die PP, traditionell PSOEs Hauptfeind. Dieses Mal, nachdem Vox die politische Bühne betrat, wurde plötzlich sogar Pablo Casados PP als eine »moderate, verhandlungswillige Kraft« dargestellt.

Zurzeit scheint Sánchez erst einmal beschlossen zu haben, Unidas Podemos (UP) als Regierungspartner zu priorisieren. Diese Allianz ist jedoch in keiner Weise gesichert, da die Zahlen nicht reichen. Um eine absolute Mehrheit zu erreichen, bräuchten sie die Unterstützung von 19 weiteren Abgeordneten. Und an diesem Punkt kommt eine neue politische Realität ins Spiel: Die Parteien, die verschiedene Minderheiten und Regionen des Staates vertreten (Katalonien, das Baskenland, Galizien und sogar regionalistische Parteien wie Partido Regionalista de Cantabria oder Teruel Existe), sind stärker als je zuvor im Abgeordnetenkongress. Insgesamt gehören ihnen 40 Abgeordnete an, die der Schlüssel zum Regieren sein könnten.

Neue politische Koordinaten

Doch die Links-Rechts-Achse ergibt in Spanien schon seit Jahren keinen Sinn mehr: Das ist spätestens seit Oktober 2017 deutlich, als die PSOE die Absetzung der katalanischen Regionalregierung und die Zwangsverwaltung aus Madrid unterstützte, kurz nachdem die Region ein Referendum über die Unabhängigkeit abgehalten hatte. Mit dieser Geste deutete Pedro Sánchez‘ Partei an, dass sie die spanische Einheit mit der PP priorisierte, anstatt sich für einen Dialog mit Minderheiten zu öffnen, auch wenn diese von linken Parteien repräsentiert wurden.

Es ist ein Konflikt zwischen dem plurinational denkenden demokratischen Lager und dem nationalistisch denkenden unionistischen Lager

Zwei Jahre später dringt der katalanische Konflikt – den man inzwischen auch als »spanischen Konflikt« bezeichnen könnte, da er ja im Grunde auf der mangelnden Bereitschaft des Staates beruht, mit seinen zahlreichen Minderheiten zu verhandeln – wieder in die spanische Politik ein: Am 15. Oktober dieses Jahres, nur drei Wochen vor den Parlamentswahlen, verurteilte der oberste Gerichtshof zehn gewählte Politiker der katalanischen Regionalregierung und zwei Anführer der sozialen Mobilisierungen wegen »Rebellion und Aufruhr« zu Haftstrafen von zwischen 9 und 13 Jahren. (ak 654)

Der Prozess, den ein großer Teil der Bevölkerung als grundsätzlich politisch betrachtet, löste große Proteste aus und zeigte, dass sich die spanische Politik inzwischen nach neuen Koordinaten richtet: Es handelt sich dabei nämlich um den Konflikt zwischen dem demokratischen Lager, das auf Minderheiten achtet und den plurinationalen Charakter des Staates anerkennt; und dem unionistischen Lager, in dem eindeutig ein repressiver spanischer Nationalismus vorherrscht.

Die PSOE hat mehrfach signalisiert, was ihre Haltung zu dem Thema ist. Während des Wahlkampfs hat sie zu keinem Zeitpunkt öffentlich die Möglichkeit angesprochen, die Nähe der kleinen regionalen Parteien zu suchen, zu denen hauptsächlich Sozialdemokraten (die katalanische Esquerra Republicana ist mit 13 Abgeordneten die fünftstärkste Kraft im Parlament) und Linke gehören. Mehrere dieser Parteien unterzeichneten am 25. Oktober dieses Jahres in Llotja de Mar (Barcelona) eine gemeinsame Erklärung, in der sie davor warnten, dass sich der spanische Staat in Richtung einer zunehmend autoritären Politik zurück bewege: »40 Jahre nach dem Ende der Diktatur haben wir festgestellt, dass eine vollständige Demokratisierung des Staates aufgrund des Widerstands der alten Strukturen und des mangelnden Willens der großen spanischen Parteien unmöglich ist.« Ebenso forderten sie die Freilassung politischer Gefangener und die Rückkehr der Exilierten, die Anerkennung der freien Selbstbestimmung der verschiedenen Minderheiten, die im Staat zusammenleben, sowie einen Dialog zur Lösung des politischen Konflikts. Die Erklärung wurde von den meisten katalanischen, baskischen und galizischen Parteien unterzeichnet, sowie von Repräsentant*innen aus Valencia und von den Balearen.

Die Beziehung zwischen Parteien, die auf staatlicher Ebene agieren, und den regionalen Parteien wird mit Sicherheit eines der Hauptthemen sein, die auf die neue Regierung zukommen. Eine andere unbeantwortete Frage wäre die wirtschaftliche Situation. Wenn Europa vor einer weiteren Rezession steht, kann man sich vorstellen, dass sich auch Spanien, dessen soziale Strukturen zunehmend anfällig geworden sind, mit einer weiteren Krise auseinandersetzen muss. Das könnte zu schwierigen Entscheidungen für eine mögliche PSOE-UP-Regierung führen, insbesondere in einer Koalition, die sehr unterschiedliche Sichtweisen über die Wirtschaftspolitik hat. Sánchez hat bereits einige der Namen genannt, aus denen sich seine Regierung zusammensetzen würde; als erste Vizepräsidentin beispielsweise die ehemalige Präsidentin des EU-Budgets, Nadia Calviño, und als zweiter Vizepräsident Pablo Iglesias von UP, ein erklärter Antikapitalist.

Tatsächlich scheint es so, als ob eine Regierung der Improvisation gebildet wird, die je nach den Bedürfnissen des Moments verschiedene Unterstützer*innen suchen und davon abhängig ihre Entscheidungen treffen wird. Die PSOE könnte bei Themen wie Katalonien und dem Selbstbestimmungsrecht der Regionen der UP, die als einzige große Partei den Dialog befürwortet, den Rücken kehren und dabei auf rechte Parteien wie die PP zählen.

Samara Velte

Samara Velte ist Journalistin bei der Zeitung Berria und Forscherin am Institut für Sozial- und Kommunikationswissenschaften der Universität des Baskenlandes (UPV-EHU) in Bilbao.