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Leben im Abseits

Um eine Rückkehr ins Herkunftsland zu erzwingen, wird Geflüchteten die soziale Teilhabe verwehrt - mit schwerwiegenden Folgen

Von Nikolai Huke

Nur eine verschwindend geringe Zahl der Asylsuchenden verlässt bei einem negativen Bescheid Deutschland freiwillig wieder oder wird abgeschoben«, stellt ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle in Sachsen fest. (1) Und ein Mitarbeiter einer niedersächsischen Industrie- und Handelskammer sagt, dass wir uns keinen Illusionen hingeben sollten. »Die Rückführung in der Masse wird nicht stattfinden. Wir sollten alle Kraft aufwenden, um die Integration zu fördern.«

Dennoch setzen konservativ geführte Innenministerien und Ausländerbehörden weiter auf Exklusion, um eine erhöhte Ausreisequote zu erreichen. Abgelehnten Asylbewerber*innen, Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten und Asylsuchenden mit vermeintlich »schlechter Bleibeperspektive«, (2) wird eine soziale Teilhabe an der Gesellschaft teilweise verwehrt, indem ihnen Arbeitsverbote erteilt oder die Teilnahme an Integrationskursen verweigert werden. Laut Pro Asyl erhalten zahlreiche Menschen, die zunächst nicht in die Kategorie »gute Bleibeperspektive« fallen, später doch einen Schutzstatus oder sie bleiben aus vielerlei Gründen zumindest für eine längere Zeit in Deutschland. Die Menschenrechtsorganisation kritisiert die vorgenommene Unterscheidung als integrations- und sozialpolitisch fatal. (3)

Exemplarisch zeige sich die Strategie, Geflüchtete durch Exklusion zur Ausreise zu bewegen, an den AnkER-Zentren in Bayern, erklärt ein Mitarbeiter des bayerischen Flüchtlingsrats: »Man versucht, die Leute zu isolieren, die Leute möglichst lange fernab zu halten vom Kontakt zu Einheimischen oder Ehrenamtlichen.« In vielen Einrichtungen werde Wert darauf gelegt, den Flüchtlingen möglichst wenig Geld und Informationen zur Verfügung zu stellen. Ehrenamtliche Beratungsarbeit sei auf dem Gelände nicht gestattet, Kontakte zu Anwält*innen gestalteten sich schwierig.

Der Aufenthalt in Massenunterkünften hat gravierende Folgen für die Geflüchteten sowie für ihre Arbeitsmarktintegration. Der Mitarbeiter des bayerischen Flüchtlingsrats sagt: »In den AnkER-Zentren gibt es ganz wenig Leute, die da richtig tough durchgehen.« Der Grad der Aggression sei enorm hoch, die Leute stünden extrem unter Stress. Die Geflüchteten würden in der Regel die Einrichtung »zermürbt« verlassen, was ihre gesellschaftliche Integration nachhaltig gefährde. Und er ergänzt: »Auch die Ehrenamtlichen sind teilweise frustriert von den behördlichen Barrieren, die den Geflüchteten vor die Füße gelegt werden. Und dann kommen dazu noch frustrierte Flüchtige.«

Im Fokus: afghanische Geflüchtete

Der Effekt dieser Strategie in den vergangenen Jahren: eine kaum gestiegene Ausreisequote, stattdessen der Ausschluss der Betroffenen aus der Gesellschaft. Das Hauptproblem sei, so ein Interviewpartner aus einer Willkommensinitiative in Sachsen, dass das System darauf ausgelegt sei, die Leute psychisch an ihre Grenze zu bringen. Die Strategie hat mitunter gravierende Folgen für die psychische Gesundheit der betroffenen Geflüchteten. Eine Beratungsstellenmitarbeiterin aus Hamburg sagt dazu: »Wir haben junge Menschen, die unter anderem an dieser Situation psychisch erkranken, daran zerbrechen. Ich habe junge Leute, die irgendwann sagen: Ich kann das hier nicht mehr, ich will zurückkehren. Aber auch junge Leute, die in dieser Situation beeindruckend wachsen und sich ganz neu aufstellen und sortieren.« Von Alkoholismus und Drogenkonsum weiß eine Mitarbeiterin des Projektträgers zu berichten. Die Mitarbeiterin einer Kommune in Bayern spricht sogar von »total gebrochenen Geflüchteten«. »Die sind psychisch so beeinträchtigt, dass sich das Thema Arbeitsmarktintegration erledigt hat.« Und das sei eine Folge politischer Entscheidungen.

„Ich habe junge Leute, die irgendwann sagen: Ich kann das hier nicht mehr, ich will zurückkehren.“

Beratungsstellenmitarbeiterin aus Hamburg

Von der repressiven Strategie betroffen sind insbesondere Geflüchtete aus Afghanistan, berichtet ein Aktivist aus Hamburg. Er ist selbst aus dem Land geflohen und organisiert nun Demonstrationen gegen Abschiebungen dorthin. Es gebe eine Hierarchisierung der Geflüchteten in mehrere Klassen. Menschen aus Afghanistan würden als »Flüchtlinge fünfter oder sechster Klasse behandelt«. Daher stünden für Geflüchtete vom Hindukusch beispielsweise nur unzureichend Sprachkurse zu Verfügung. Zudem hätten sie Schwierigkeiten, eine Ausbildung oder Arbeit aufzunehmen und kaum Chancen, sich eine eigene Wohnung zu suchen, so der Aktivist weiter. Die Folge: Die Geflüchteten säßen lange in der Flüchtlingsunterkunft fest.

Auch die Mitarbeiterin eines hessischen Sprachkursträgers beschreibt die aufenthaltsrechtliche Situation der Geflüchteten aus Afghanistan als tragisch. Sie hat über viele Jahre eine Frau aus Afghanistan begleitet, deren Familie in den 1990er Jahren nach Deutschland geflüchtet ist. »Ich glaube, sie hat bis heute keinen sicheren Aufenthaltsstatus«, sagt die Mitarbeiterin. Von solchen Fällen kann auch ein Aktivist der Gruppe Lampedusa in Hamburg berichten: »Wir haben immer wieder Berichte gehört von Asylbewerbern, die mehr als fünf Jahre in Deutschland sind und keine Arbeitserlaubnis haben.«

Ein Ehrenamtlicher einer sächsischen Willkommensinitiative erzählt von vielen jungen afghanischen Männern, die keine Arbeitserlaubnis erhielten – und das häufig, obwohl Firmen großes Interesse daran hatten, die Männer einzustellen. Die Ausländerbehörde verweigerte jedoch die Arbeitserlaubnis.

Beispielhaft wird die Absurdität des Systems an einer Familie, für die der sächsische Ehrenamtliche eine Patenschaft übernommen hatte. Die Familie klagte gegen die Ablehnung ihres Asylantrages. Es dauerte drei Jahre, bis es zu einer Gerichtsverhandlung kam. Während dieser drei Jahre hatten die Familienangehörigen nur eine Duldung, also eine ausgesetzte Abschiebung. »Das heißt keine Arbeit, keine Ausbildung. Die Afghanen hatten keinen Deutschkurs. Jahrelang. Das ist doch kompletter Schwachsinn! Ich kann das nicht verstehen«, sagt der Ehrenamtliche. Sinn ergebe ein solcher Umgang mit Geflüchteten nur unter der Prämisse, »dass sich hier niemand integrieren soll, dass die Leute gefälligst wieder nach Hause gehen sollen.« Seiner Erfahrung nach verfielen infolge der systematischen Exklusion auch zuvor hoch motivierte Geflüchtete in Lethargie. Er habe erlebt, »dass Familien irgendwann völlig entnervt waren und zermürbt zur Botschaft nach Berlin gefahren sind und gesagt haben, sie würden wieder nach Hause fahren wollen.«

Leichte Verbesserungen

Im August 2019 trat das Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz in Kraft. Damit hat sich unter anderem für Geflüchtete aus Afghanistan die Situation verändert. So wurde für bestimmte Gruppen der Zugang zu Sprachkursen und Maßnahmen der Arbeitsmarktintegration erleichtert. Für alle Geflüchteten, die eine Arbeitserlaubnis haben, wurde der Zugang zu Integrationskursen, zu Kursen der berufsbezogenen Deutschsprachförderung und Leistungen der Bundesagentur zur Förderung der Arbeitsmarktintegration geöffnet. Allerdings wurden teils lange Fristen von bis zu 15 Monaten festgelegt, bevor ein Zugang zu einzelnen Integrationsmaßnahmen möglich ist. Vom Zugang ausgeschlossen bleiben Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten. Dazu gehören unter anderem Roma und Sinti aus Osteuropa, die in ihren Herkunftsländern alltäglicher Diskriminierung ausgesetzt sind. »Das Beschäftigungsverbot, das tatsächlich oft willkürlich ausgesprochen wird, wird viele Menschen davon abhalten, von Verbesserungen zu profitieren«, kommentiert das Netzwerk Berlin Hilft.

Problematisch ist auch eine im Gesetz enthaltene Stichtagsregelung. So wird etwa der Zugang zu Integrationskursen nur für Asylsuchende, die vor dem 1. August 2019 eingereist sind, ermöglicht. Für alle, die danach einreisten, ist ein Zugang nur bei »guter Bleibeperspektive« möglich, das heißt gegenwärtig nur für Asylsuchende aus Syrien und Eritrea. Die neuen Regelungen verbessern damit für Asylsuchende mit vermeintlich »schlechter Bleibeperspektive« nur vorübergehend die Zugangsmöglichkeiten.

Ebenfalls im August 2019 trat das »Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht« in Kraft. Das Gesetz verlängert den Zeitraum, den Asylsuchende und abgelehnte Asylbewerber*innen verpflichtet werden können, in Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen, auf bis zu 18 Monate. Das Arbeitsverbot für Personen, die verpflichtet sind, in Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen, wurde von drei auf neun Monate verlängert. Für den Fall einer »fehlenden Mitwirkung« bei der Klärung der eigenen Identität führte das Gesetz einen neuen Duldungsstatus ein, welcher ebenfalls mit einem Arbeitsverbot einhergeht. Dieses Gesetz verschärft die Exklusion Geflüchteter weiter. Ein Ende der inhumanen Behandlung ist nicht in Sicht.

Anmerkungen:
1) Die Zitate sind Interviews entnommen, die im Rahmen des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland« geführt wurden. Sie wurden sprachlich geglättet. Alle Interviews wurden vor dem Inkrafttreten des Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetzes geführt.
2) Die Bleibeperspektive wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anhand der unbereinigten Schutzquote bestimmt: Liegt diese über 50 Prozent wird von einer guten, sonst von einer schlechten Bleibeperspektive ausgegangen. Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl kritisieren diese Praxis als sachlich und rechtlich problematisch.
3) Ene, mene, muh und raus bist du! Mehr Asylsuchende von Integrationschancen ausgeschlossen, online unter: www.proasyl.de, 2.8.2019.

Nikolai Huke

forscht im Projekt »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland« zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten.