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Kein Homeoffice für Holzfäller

Im Schatten von Corona wird in Brasilien der größte Landraub der Geschichte eingeleitet

Von Thomas Fatheuer

Massive Abholzung in der Corona-Krise: Eine Studie der Umweltorganisation WWF beklagt, dass die Rodungen der Tropenwälder stark zugenommen haben. Am meisten betroffen sind Gebiete in Indonesien, Brasilien und im Kongo. Foto: lubasi / Wikimedia, CC BY-SA 2.0

Schlechte Meldungen aus Brasilien ist man inzwischen gewöhnt. In einem scheinbaren Chaos verfolgen Präsident Jair Bolsonaro und seine Regierung konsequent den Weg der Schwächung demokratischer Strukturen, den Abbau von Rechten und den Angriff auf politische Gegner*innen. Daher überrascht es kaum, dass die Entwaldungsraten in Amazonien erneut angestiegen sind. Laut den Daten von IMAZON, einem Institut, das sich dem Schutz des Regenwaldes verschrieben hat, gab es von Januar bis April 2020 eine Steigerung von 133 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, im April betrug der Anstieg sogar 171 Prozent.

Dabei muss jedoch bedacht werden, dass die ersten Monate des Jahres noch in die Regenzeit fielen. Die großen Entwaldungen mit den spektakulären Bildern von Rauch und Feuer, die im letzten Sommer um die Welt gingen (ak 652), beginnen in der Regel erst im Juni. Doch die ersten Zahlen des Jahres 2020 zeigen: Die Tendenz des Anstiegs der Entwaldung ist ungebrochen.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Bolsonaro und sein Umweltmister Ricardo de Aquino Salles ziehen unermüdlich gegen die Einschränkungen des »produktiven Sektors« durch Umweltgesetzgebung und Schutzgebiete ins Feld. Sie haben systematisch die Umweltbehörden geschwächt und desavouiert. Ein spektakuläres Beispiel wurde der brasilianischen Öffentlichkeit im April präsentiert. Der Fernsehsender »Globo« begleitete zur besten Sendezeit eine Aktion des brasilianischen Bundes-Umweltamtes IBAMA gegen illegale Goldgräber in einem indigenen Territorium. Wie üblich wurden dabei die beschlagnahmten Gerätschaften von den Agenten der Umweltpolizei zerstört. Die Folge der erfolgreichen Aktion war die Ablösung des zuständigen Direktors der Umweltbehörde. Zudem verurteilte Bolsonaro öffentlich das Verhalten der Behörde. Das Signal, das davon ausgeht, ist verheerend: Illegale Aktionen in Amazonien sollen straffrei bleiben. Und jene, die die Entwaldung vorantreiben, verstehen das genau so. Illegale Holzfäller kennen kein Homeoffice und halten sich an keine Corona-Regeln.

Angriff auf die Indigenen

Die internationale Aufmerksamkeit, die Entwaldungsraten in Amazonien skandalisiert, greift aber oft zu kurz. Denn es wird nicht nur Wald zerstört, sondern auch der Lebensraum indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften. Die Zerstörung des Waldes im Amazonasgebiet ist auch ein Angriff auf die Territorien dieser Gruppen. Anders gesagt: Es geht um Land – um viel Land. Mehr als 20 Prozent Amazoniens sind indigene Territorien; insgesamt stehen rund 45 Prozent Amazoniens unter Schutz.

Die Regierung Bolsonaro versucht nun, die Aneignung von Land durch Privatbesitz entschlossen voranzutreiben. Kernstück sind Gesetzesinitiativen, die die Aneignung von Land in der Amazonasregion erheblich erleichtern sollen. Dem ursprünglichen Gesetzesentwurf zufolge sollten bis zu 1.500 Hektar ohne Kontrollen, die diesen Namen verdienen, jenen übertragen werden, die Ansprüche geltend machen. Soziale Bewegungen und NGOs in Brasilien haben dieses Gesetz daher als »Gesetz des Landraubes« angeprangert. Ein erster Versuch der Abstimmung scheitert, ein nächster Anlauf – unter neuem Gesetzestitel – seht demnächst bevor.

Mit einem Dekret hat die Militarisierung Amazoniens eine neue Dimension erreicht.

Dass in einer solchen Weise Ansprüche auf Land erhoben werden können, liegt daran, dass es für große Flächen Amazoniens keine legalen Landtitel gibt. Diese Flächen sollen nun in Privatbesitz überführt werden. Es ist kaum eine Übertreibung zu sagen, dass sich in Amazonien gerade einer der größten Prozesse von Landraub in der Geschichte der Menschheit abspielt.

Erleichtert wird dieser Prozess paradoxerweise durch die brasilianische Umweltgesetzgebung. Die hatte im Rahmen der Reform des Waldgesetzes das Instrument eines Umweltkatasters (CAR) eingeführt. Dieses sollte die Einhaltung der Umweltauflagen für private Besitzer*innen sicherstellen. Das Problem dabei: Das Umweltregister ist nicht an den Nachweis des Landbesitzes gebunden. Durch zahlreiche Reportagen und Studien ist belegt worden, dass Spekulant*innen Umweltregister auf Land, das ihnen gar nicht gehört, einfach per Online-Klick anmelden und so Ansprüche geltend machen. Und sie haben guten Grund anzunehmen, dass die Regierung Bolsonaro das letztendlich billigen wird. Nicht nur angeblich »verrückte« rechtsradikale brasilianische Politiker*innen mischen hier mit, sondern auch internationale Akteure. Die Umsetzung des Umweltkatasters wird aus Deutschland von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützt.

Militärs – die gefährlichen Retter Amazoniens

In die Meldungen über die ansteigenden Entwaldungsraten platzte im Mai dann eine auf den ersten Blick überraschende Neuigkeit: Die Militärs nehmen sich Amazoniens an. Der Hintergrund: Die Zuständigkeit für den milliardenschweren Amazonasfond wurde vom Umweltminister auf den Vizepräsidenten Hamilton Mourão übertragen. Den vorwiegend von Norwegen (mit über eine Milliarde US-Dollar), aber auch von Deutschland finanzierten Fond hatte der Umweltminister Salles Anfang 2019 de facto stillgelegt. Der Amazonasfond unterstützte sowohl Aktionen von Bundesstaaten als auch von NGOs gegen Entwaldung. Ungeachtet der Kritik an dem Fond hatten indigene Organisationen und NGOs dessen Schließung kritisiert. Mourão soll nun die festgefahrene Lage ändern und hat sich Ende Mai bereits mit den Botschaftern von Deutschland und Norwegen getroffen.

Mourão aber ist der prominenteste Vertreter der Militärs in der Regierung Bolsonaro. Diese besetzen inzwischen immer mehr Schlüsselpositionen in der Regierung und versuchen, sich als »Stimme der Vernunft« gegenüber dem cholerischen Bolsonaro zu profilieren. Amazonien scheint den Militärs besonders am Herzen zu liegen. Nachdem bereits zahlreiche Posten in den Umweltbehörden mit Militärs besetzt wurden, hat die Militarisierung Amazoniens mit dem Dekret 10.344 eine neue Dimension erreicht. Es verhängt eine Art Notstandsgesetz über Amazonien – GLO (Garantie von Gesetz und Ordnung) genannt. Damit werden sowohl die Umweltbehörden als auch die für indigene Fragen zuständige Nationale Stiftung des Indios (FUNAI) dem Kommando der Militärs unterstellt. Für die Umsetzung der GLO wurden elf Millionen US-Dollar bereitgestellt, fast so viel wie die 13,4 Millionen, die dem Bundes-Umweltamt im ganzen Jahr für operative Zwecke zur Verfügung stehen.

Die Militärs haben schon seit den Zeiten der Militärdiktatur ein großes Interesse an Amazonien gezeigt. Ihnen geht es dabei jedoch nicht um den Erhalt des Waldes oder um die Rechte der indigenen Völker, sondern um die systematische wirtschaftliche »Erschließung« der Region. Dass die international in Verruf geratene Politik der Regierung Bolsonaros nun der Militarisierung der Region den Boden bereitet, ist alles andere als eine gute Perspektive.

Thomas Fatheuer

Thomas Fatheuer ist Sozialwissenschaftler und lebte von 1992 bis 2010 in Brasilien.