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EU: Jeder stirbt für sich allein

Von Nelli Tügel

Eine Binsenweisheit besagt, dass Krisen und Katastrophen das Gute wie das Schlechte besonders zum Vorschein bringen. Für die Europäische Union scheint das voll zuzutreffen – all ihre schlechten Seiten treten dieser Tage noch deutlicher hervor als sonst: In Ungarn herrscht nun hochoffiziell und von den anderen EU-Staaten ungestraft eine Diktatur. In den griechischen EU-Flüchtlingslagern werden Menschen sich selbst und dem Virus überlassen. Endlos lange dauerte es, bis wenige EU-Länder damit anfingen, ein paar Dutzend Kinder in einer zynischen Inszinierung aus den Camps zu evakuieren.

Während Grenzen auch innerhalb der EU geschlossen wurden, setzten Länder wie Deutschland oder Österreich alle Hebel in Bewegung, um 24-Stunden-Pflegerinnen oder Erntehelfer*innen aus Osteuropa trotzdem einfliegen zu können. Selten wurde deutlicher, dass das Schengen-System prioritär dazu dienen soll, nach außen abzuschotten und nach innen den freien Verkehr von Waren und Arbeiter*innen zu ermöglichen. Das Abkommen folgte zwar stets wirtschaftsliberalen, nicht humanistischen Prämissen, überdeckt aber vom Geraune vermeintlicher EU-Bürgerschaft. Dass es um eine solche nie ging, dürfte spätestens jetzt klar geworden sein. 

Und die guten Seiten der EU, die nun zur Blüte reifen? Diese guten Seiten gibt es gar nicht, wie sich zeigt. Die Institutionen und Akteure der EU beschwören zwar weiter Zusammenhalt und Solidarität, doch leerer waren die Worte selten. »Europa lebt«, freute sich NRW-Ministerpräsident Armin Laschet am 21. März auf Twitter darüber, dass ein schwer an Covid-19 erkrankter französischer Patient zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen wurde. Das geschah, als in Italien, Spanien und Frankreich schon Tausende gestorben waren. Insbesondere in Spanien und Italien auch deshalb, weil die dortigen Gesundheitssysteme nach Umsetzung vergangener EU-Spardiktate kaputt gespart worden waren. Und es geschah erst Tage nach der Ankunft kubanischer Ärzt*innen und Pflegekräfte in Italien und nachdem China bereits damit begonnen hatte, Ausrüstung nach Europa zu schicken.

Die guten Seiten der EU, die nun zur Blüte reifen? Die gibt es nicht, wie sich zeigt.

Während die kubanische und die chinesische Hilfe natürlich umgehend als unzulässiger Versuch der Einflussnahme verdammt wurden (ganz so, als handele die EU entwicklungspolitisch uneigennützig), häuften sich die Berichte darüber, dass europäische Staaten sich gegenseitig die Ausrüstung wegklauten. Der deutsche Finanzminister schämte sich derweil nicht, auch im Angesicht der Katastrophe im Süden des Kontinents öffentlich davon zu sprechen, Deutschland habe so »solide gewirtschaftet« und könne daher nun aus dem Vollen schöpfen.

Das Bild, das »Europa« in der Pandemie abgibt, ist so ernüchternd wie eindeutig: Bis auf wenige Ausnahmen stirbt jeder für sich allein. Schwer vorstellbar vor diesem Hintergrund, dass nach der Krise ohne Weiteres zurückgekehrt werden kann zum altbekannten EU-Friedens-, Freiheits- und Wertegelaber, das als ideologisches Mäntelchen stets über dem Staatenbund lag und ihn in den Augen vieler Menschen legitimierte.

Dieses Mäntelchens befreit, präsentiert sich die EU auf das zusammengeschnurrt, was sie nun einmal ist: ein Machtbündnis kapitalistischer Nationalstaaten. Dass Schengen wieder auf den Stand vor Corona zurückgeführt werden könnte, scheint nicht einmal die deutsche Bundeskanzlerin zu glauben. Auf Nachfrage, ob die Grenzen wieder geöffnet würden (also nicht nur für Warenverkehr, denn für diesen wurden sie nie geschlossen), sagte sie bei einer Pressekonferenz Mitte März, sie »hoffe« es – und klang dabei nicht überzeugt.

Neben dem Schengen-Abkommen waren eine zweite zentrale Säule der EU vor allem die 1992 im Vertrag von Maastricht festgehaltenen Konvergenzkriterien. Die Regeln zu Staatsverschuldung und Haushaltsdefizit waren in der Vergangenheit immer wieder Grund für Dissens, vor allem zwischen deutschen Interessen und denen der südeuropäischen Länder wie etwa Italien. Sie verunmöglichten vielfach staatliche Investitionen in Gesundheit und soziale Bereiche und haben den zutiefst neoliberalen Charakter der EU einst europarechtlich zementiert.

In der Corona-Krise wurden die Regeln nun scheinbar außer Kraft gesetzt. Es sei ab sofort möglich, »unbegrenzt« in die Wirtschaft zu investieren, erklärte Ursula von der Leyen am 20. März, die Kommission gewähre »maximale Beinfreiheit, um gezielt den Unternehmen, die jetzt in der Krise sind, helfen zu können«. So besonders großzügig ist die »Beinfreiheit« allerdings nicht, wenn man sich die Auflagen für Kredite aus dem Euro-Rettungsschirm ESM anschaut, auf die sich die Euro-Finanzminister Anfang April zunächst einigten.

Viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die restriktiven Haushaltsregeln nicht 30 Jahre lang die EU beherrscht hätten.

Es ist überdies nicht besonders radikal, festzustellen, dass viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die restriktiven Haushaltsregeln nicht fast 30 Jahre lang die EU beherrscht hätten, wenn es »maximale Beinfreiheit« zum Beispiel in Spanien, Italien und Griechenland für die Finanzierung der Gesundheitswesen gegeben hätte. Verlängert wird die Debatte im Grundsatz nun in dem unwürdigen Schauspiel um die Corona-Euro-Bonds, die die reichen europäischen Länder wie Deutschland und die Niederlande mit aller Kraft wegen »Vergemeinschaftung von Schulden« abzuwehren versuchen.

Ein Rückfall in die Nationalstaaten sei noch schlimmer als die EU, daher müsse sie reformiert statt überwunden werden – so haben auch Linke in der Europa-Debatte in den vergangenen Jahren immer wieder argumentiert. Wenn nun die Corona-Krise eines belegt, dann dass die EU nie auch nur einen Schritt dahin geführt hat, Nationalstaaten zu überwinden – deshalb ist sie in der Krise so offensichtlich auf ebenjene zurückgeworfen.

Zumindest böte sich hier die Gelegenheit, eine alte, in den vergangenen Jahren etwas verkümmerte, radikale EU-Kritik zu erneuern und sich nicht mehr selbst in die Tasche zu lügen – jetzt, da die Karten so klar auf dem Tisch liegen, weil Katastrophen und Krisen eben das Gute, das Schlechte, die Prioritäten – und den eigentlichen Charakter so manchen Gebildes deutlich zutage treten lassen.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.