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Es trifft jene, die nicht am Verhandlungstisch sitzen

Die EU will am sogenannten Flüchtlingsdeal festhalten - die Türkei spielt ihre letzte Karte aus, denn sie hat sich in Idlib verrannt

Von Anselm Schindler

In der syrischen Provinz Idlib – hier im Februar 2019 – krachen die Machtinteressen Russlands, der EU und der Türkei geballt aufeinander. Foto: Anas Aldyab von Pexels

Zehntausende Menschen harren an der türkisch-griechischen Grenze aus, seitdem der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan angekündigt hat, den 2016 ausgehandelten »Flüchtlingsdeal« zu brechen und Geflüchtete aus der Türkei nach Europa weiterreisen zu lassen. Die Lage an der Grenze ist katastrophal, die Menschen wollen raus aus der Türkei, sie werden dort von türkischen Nationalist*innen attackiert, doch die EU lässt sie nicht herein, auf griechischer Seite greifen Polizisten, Einheimische und Nazigruppen aus verschiedenen Ländern die Geflüchteten ebenfalls an und treiben sie zurück in die Türkei. Laut Angaben der griechischen Regierung hätten bereits 41.000 Menschen die Grenze illegal passiert (Stand 10. März), sie wurden dann aber wieder Richtung Türkei zurückgedrängt.

In den sozialen Netzwerken kursieren Fotos von entkräfteten, frierenden Menschen, denen die Polizei Geld, Handys und sogar Kleidung abgenommen hat. Sowohl Griechenland als auch die Türkei verstoßen derzeit gegen verschiedene Gesetze; Griechenland, weil es Schutzsuchenden auf griechischem Staatsgebiet die Möglichkeit verweigert, Asyl zu beantragen. Und die Türkei, weil sie geflüchtete Menschen als politisches Instrument gegen die EU in Stellung bringt – und den »Flüchtlingsdeal« verletzt.

Erdoğan steht mit dem Rücken zur Wand

Das türkische Regime verfolgt in dem Konflikt innenpolitische, aber auch außenpolitische Ziele. Es will von der EU mehr Geld, sechs Milliarden Euro hatte die EU Ankara in Aussicht gestellt, um Flüchtlinge zurückzuhalten, dazu Visa-Erleichterungen und eine Erweiterung der Zollunion. Erdoğan moniert, dass dies bislang leere Versprechen geblieben seien. Zwar sind die Finanzhilfen weitestgehend zugesagt, allerdings werden sie nur projektbezogen ausgezahlt. Das ärgert Erdoğan, denn die Türkei hat bislang rund vier Millionen Geflüchtete aufgenommen und steckt zugleich in einer tiefen Wirtschaftskrise.

Und auch die im Deal versprochenen Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger*innen wurden bislang noch nicht umgesetzt. Die EU begründet das mit dem Vorwurf, die Türkei habe ihrerseits Bedingungen nicht erfüllt. Konkret geht es dabei etwa um den Kampf gegen Terrorismus, auch in einigen europäischen Staaten stößt es den Regierenden sauer auf, dass die Türkei den sogenannten Islamischen Staat jahrelang nicht nur nicht bekämpft, sondern unterstützt hat. Nun will Erdoğan die EU dazu zwingen, ihren Teil des Vertrages trotzdem einzuhalten – der Bruch des »Flüchtlingsdeals« ist kein Mittel der ersten Wahl, sondern mehr die verzweifelte Aktion eines angekratzten Despoten.

Angekratzt ist Erdoğan aber nicht nur innenpolitisch und wegen der schlechten ökonomischen Lage. Auch in Syrien droht ihm die Situation zu entgleiten. Wer das verstehen will, muss nach Idlib schauen. Die kleine nordwestliche Provinz Syriens an der Grenze zur Türkei ist gerade einmal halb so groß wie das Bundesland Brandenburg und wirtschaftlich bis auf Olivenanbau und Seifenproduktion nicht sonderlich bedeutend. Doch hier krachen gerade die Machtinteressen der EU, der Türkei und Russlands aufeinander. Mit der Schlacht um Idlib hat eine der letzten großen Auseinandersetzungen um die Nachkriegsordnung Syriens begonnen.

Die Türkei hat viele Milliarden in den Krieg um Syrien gesteckt und dort nicht zuletzt auch Soldaten verloren. Ihr vorderstes Ziel war dabei von Anfang an die Entmachtung Assads und die Installierung einer Regierung, die Ankara wohlgesonnen ist. Doch in zwei Dritteln des syrischen Gebietes ist Assad bereits zurück an der Macht. Vor einigen Wochen begann das syrische Regime, unterstützt von russischen Bombern, den seit langer Zeit erwarteten Schlag gegen eine der letzten islamistischen Bastionen des Landes. Dort haben sich verschiedene Milizen verschanzt, die untereinander um Vorherrschaft konkurrieren, aber gemeinsam im Dachverband Hayat Tahrir asch-Sham (HTS) kämpfen. Es sind keine moderaten Rebellen, sie wollen einen Gottesstaat, und sie haben Abu Bakr al-Baghdadi bis zu seinem Tod in Idlib versteckt gehalten, den ehemaligen Kopf des IS.

Eingeklemmt zwischen Assad und Islamisten

Inzwischen sind die Truppen des Assad-Regimes vom Osten her bis auf acht Kilometer an die Stadtgrenze Idlibs herangerückt. Sie nehmen dabei relativ wenig Rücksicht auf Verluste, bombardieren immer wieder auch zivile Ziele. Die Menschen, die vor den Kämpfen fliehen, werden auf immer engerem Raum zusammengepfercht, denn die Grenzen in die westlich gelegene türkische Region Hatay, und die im Norden gelegene besetzte Region Afrin sind dicht. Inzwischen sollen es nach Angaben des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zwischen zwei und drei Millionen Menschen sein, die sich in Idlib aufhalten. Sie wollen weder Assad in die Hände fallen, noch zum Kanonenfutter für die Rückzugsgefechte der HTS werden. Sie wollen ausbrechen, können aber nicht. Immer wieder kursiert auf Twitter der Hashtag #smashthewall, er richtet sich an Erdogan, die Menschen, die vor den Kriegshandlungen fliehen, fordern den türkischen Staat auf, die Grenze zu öffnen.

Für Erdoğan hängt viel an Idlib. Einerseits will er dort Geflüchtete und Familien von Islamisten dauerhaft ansiedeln, wie er es in den besetzten Teilen von Rojava bereits tut. Andererseits würde er gerne den nördlichen syrischen Landstreifen entlang der türkischen Grenze dauerhaft an die Türkei binden – egal, ob es sich dabei um mehrheitlich kurdisches, arabisches oder turkmenisches Land handelt. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Erdoğan in Idlib jahrelang islamistische Milizen unterstützt – vor allem die Dschaisch al-Fatah, einen Rebellenverband, der von der Türkei mit Waffen und Geld versorgt wurde, Idlib dann aber ab 2017 stückweise an die HTS verlor. Die HTS konkurrierte lange mit protürkischen Milizen, auch mit denen, die den kurdisch-syrischen Kanton Afrin besetzt halten, doch die Mobilmachung Assads und Russland in Idlib hat die Türkei und die HTS ein Stück weit zusammengeschweißt.

Vieles deutet darauf hin, dass die EU alles versuchen wird, damit die Türkei die Rolle, die ihr die EU zuweisen will, wieder einnimmt: als Freiluftgefängnis für Geflüchtete am Rande Europas.

Unmittelbar vor der »Grenzöffnung« gen Europa und damit dem Bruch des EU-Türkei-Deals wurden nun in Idlib durch einen syrischen Luftschlag mehrere Dutzend türkische Soldaten getötet, wenige Tage darauf reiste Erdogan nach Moskau und vereinbarte dort mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Waffenstillstand, der aber mutmaßlich nicht halten wird – es ist einer von vielen, bislang hat keiner gehalten.

Es zeichnet sich ab, dass die islamistisch-türkische Fraktion in Idlib mittelfristig unterlegen ist. Was vor allem daran liegt, dass das Assad-Regime mit dem Iran und mit Russland regional sowie international bedeutende Player an der Seite hat, die offensiv mit Bombern – und im Falle des Iran auch mit mehreren eigenen Milizen – in den Konflikt eingreifen, während sich die Nato in der Unterstützung der Türkei zurückhaltender verhält. Die einzige Möglichkeit, die Erdoğan in Idlib bleibt, ist, andere Nato-Staaten stärker in die Kriegshandlungen zu verwickeln. Im Spiel um die Krise in Syrien verbraucht das türkische Regime gerade seinen letzten Trumpf – Erdoğan spielt die Flüchtlingskarte aus, um westliche Staaten im Kampf um Idlib gegen Assad und Russland in Stellung zu bringen.

Die EU hat nun in Bezug auf Erdoğans Machtspiele in Syrien zwei Möglichkeiten: Sie kann entweder nachgeben, oder riskieren, dass das türkische Regime die Grenzen weiter öffnet und Hunderttausende, wenn nicht Millionen Geflüchtete versuchen, in die EU zu kommen. Ein Szenario, das vielen Regierungschefs in Europa den kalten Schweiß auf die Stirn treibt, wenn sie an die nächsten Wahlen denken. Vieles deutet derzeit darauf hin, dass die EU alles versuchen wird, damit der »Flüchtlingsdeal« wieder in Kraft tritt und die Türkei die Rolle, die ihr die EU in der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik zuweisen will, wieder einnimmt: als Freiluftgefängnis für Geflüchtete am Rande Europas.

Was tut die EU?

Es sieht also so aus, als würde sich die EU auf Erdoğan zubewegen müssen. Am 9. März trafen sich Vertreter*innen der EU und der Türkei zu einem Krisengipfel. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte dort nach einem Treffen mit Erdoğan, dass der »Flüchtlingsdeal« weiter bestehen bleibe. Die Frage ist nun, wie hoch der Preis sein wird. Der einfachere Teil der Verhandlungen wird dabei die Geldfrage sein, und es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass die Gespräche über die Visafreiheit für türkische Staatsbürger*innen nun wieder aufgenommen werden. Fraglich bleibt aber, wie sich die Nato-Staaten zu Idlib positionieren. Derzeit sieht es nicht so aus, als wären die Nato-Verbündeten der Türkei gewillt, offen in Idlib zu intervenieren und Kampfhandlungen zwischen Nato-Staaten und Russland zu riskieren. Sowohl die USA auch als europäische Staaten haben sich bislang zurückhaltend gezeigt.

Die Verhandlungen über die Neuauflage des »Flüchtlingsdeals« und seine Fußnoten könnten also vor allem eines werden: langwierig. Am schlimmsten trifft dies die Menschen, die nicht am Verhandlungstisch sitzen. Die Menschen, die in Idlib unter den Bombardierungen und Gefechten leiden und deren Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medizin von Tag zu Tag schlechter wird. Und die Menschen, die an den Toren Europas derzeit wohl vergeblich darauf hoffen, die Türkei verlassen zu können.

Anselm Schindler

ist im Netzwerk Defend Kurdistan und bei der Kommunistischen Partei Österreich (KPÖ) aktiv und schreibt regelmäßig zu internationalen Konflikten.