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Die Hauptleidtragenden stehen schon fest

Unzählige Syrer*innen aus Idlib sind erneut auf der Flucht

Von Harald Etzbach

Die Situation in Idlib, der Provinz im Nordwesten Syriens, die sich als letztes Gebiet des Landes noch unter Kontrolle der Rebellen befindet, wird von Tag zu Tag dramatischer. Das Assad-Regime ist entschlossen, die Provinz nun auch zurückzuerobern, und hat seit Dezember 2019 seine Angriffe mit Unterstützung russischer und iranischer Verbündeter massiv verstärkt. 

Während die russische Luftwaffe nahezu täglich die zivile Infrastruktur – Schulen, Wohngebiete, Krankenhäuser und Märkte – bombardiert, rücken die Truppen der Regimearmee und iranische Milizen immer weiter vor, erobern Dörfer und Städte. Mittlerweile stehen sie kurz vor der Provinzhauptstadt Idlib. Etwa 700.000 Menschen sind derzeit auf der Flucht in Richtung türkische Grenze, doch die ist geschlossen. Die Bedingungen für die Flüchtenden sind katastrophal. Wer ein Auto besitzt, hat Glück, doch gehen auch langsam die Benzinvorräte zu Ende. Viele gehen zu Fuß, besitzen nicht einmal ein Zelt und leben im Freien unter Bäumen, bei Minusgraden mit ein paar Decken und den wenigen Habseligkeiten, die sie retten konnten. Nahrung und sauberes Trinkwasser werden immer knapper, und Medikamente gibt es so gut wie nicht. Insbesondere Säuglingen und Kleinkindern droht der Tod durch Erfrieren. Und als ob all dies noch nicht genug wäre, werden die Konvois und Lager der Flüchtenden auch immer wieder bombardiert.

In dieser Situation kam es Anfang Februar zu einer Eskalation zwischen dem syrischen Regime und der Türkei. Nachdem syrische Regimetruppen türkische Stützpunkte in Idlib angegriffen und dabei 13 türkische Soldaten und Zivilisten getötet hatten, reagierten die Türkei und mit ihr verbündete Milizen mit dem Abschuss eines syrischen Militärhubschraubers und Angriffen auf Einheiten der syrischen Armee. Nach türkischen Angaben wurden hierbei Dutzende von Zivilist*innen und Soldaten der Regimearmee getötet. Einige Tage später verkündete der türkische Präsident Erdogan, die Türkei werde im Falle einer erneuten Aggression der Assad-Truppen »überall« in Syrien angreifen. Die Türkei werde »am Boden und in der Luft« reagieren, sollten sich die syrischen Regierungstruppen nicht bis Ende des Monats aus den in den letzten Wochen eroberten Gebieten in Idlib zurückziehen.

Trotz dieser bombastischen Rhetorik ist aber wohl auch dem türkischen Präsidenten klar, dass die Türkei sich nicht auf eine ernsthafte militärische Konfrontation mit Russland einlassen kann, die im Falle eines weiterreichenden Vorgehens gegen das Assad-Regime unausweichlich wäre. Tatsächlich geht es der türkischen Regierung auch kaum um den Schutz syrischer Zivilist*innen. Wichtiger dürften der Ausbau einer türkischen Einflusszone im Norden Syriens und die Sicherung der türkischen Südgrenze gegenüber syrischen Flüchtlingen sein. In diesem letzten Punkt ist die Türkei sich übrigens völlig einig mit den Regierungen der EU, deren Hauptsorge ein neuer »Flüchtlingsstrom« ist. Wie immer der derzeitige Konflikt zwischen der Türkei und dem syrischen Regime ausgehen mag, die Hauptleidtragenden stehen bereits jetzt fest: Es sind die über drei Millionen Menschen, die in Idlib in einer brutalen Falle gefangen sind. 

Harald Etzbach

ist Historiker und Politikwissenschaftler und unter anderem Redakteur beim Westasiendossier der Rosa-Luxemburg-Stiftung.