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|ak 659 | Wirtschaft & Soziales |Reihe: FAQ. Noch Fragen?

Der Crash vor dem Crash

Von Marco Schroeder

Die Medien des globalen Westens sind sich mehrheitlich einig: Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise folgt auf eine lange Zeit der wirtschaftlichen Erholung seit der letzten globalen Wirtschaftskrise von 2008/09. Die niedrigen Arbeitslosenzahlen in den USA und Deutschland seien dafür ein Indiz, so Wirtschaftswissenschaftler*innen und Journalist*innen noch bis vor Kurzem. Dass die positiven Arbeitsmarktdaten auch Folge des Ausbaus von Niedriglohnsektoren in beiden Ländern sind, wird übersehen.

Hinter der Erholung nach dem Crash von 2008 standen Arbeitsmärkte, in denen niedrige Löhne immer mehr Menschen zwangen, mehrere prekäre Jobs anzunehmen. Viele Angestellte, Akademiker*innen, aber auch Handwerker*innen, hatten kaum Möglichkeiten, durch Lohnarbeit ein hinreichendes Einkommen zu erzielen, während die Wall Street und die Börse hierzulande die letzten zehn Jahre einen Bullenmarkt feierten, der in großen Teilen auf reiner Spekulation beruhte.

Weniger Investitionen in die sogenannte Realwirtschaft, also in Maschinen, Güter und Arbeit, sondern in die Finanzsphäre sorgten – neben einem Anstieg des Konsums – für eine positive Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Es boomte der Handel mit Wertpapieren, Anleihen und Aktien, mit Krediten, Hypotheken und allem, was sich finanzialisieren lässt – und seit der neoliberalen Wende in den 1970er Jahren ist das fast alles.

Betrachtet man die Statistiken über Investitionen in Technik und Arbeitskräfte, mithin in die Produktion von Gütern, so zeigt sich, dass die Produktivität nicht nur im globalen Westen rückläufig ist und schon lange vor 2008 stagnierte. Der US-amerikanische Historiker und Marxist Robert Brenner hat das immer wieder in seinen Texten hervorgehoben. Das Bild des Aufschwungs entpuppt sich als eine von Finanzmarktspekulation und arbeitnehmerfeindlicher Politik flankierten Stagnation.

Dabei wurde vor allem in den USA die Nachfrage schon lange vor der letzten Finanzkrise vor allem durch Verbraucherkredite (consumer credit) aufrechterhalten. Im Zuge dessen deregulierte die Administration von US-Präsident Bill Clinton (1993-2001) den Finanzmarkt. Unter anderem hob sie 1999 den »Glass-Steagall-Act« auf, der als Lehre aus der Weltwirtschaftskrise von 1929ff. ein sogenanntes Trennbankensystem eingeführt hatte. Das bedeutet, dass eine Bank entweder Kreditgeschäfte mit den Einlagen ihrer Kund*innen macht oder mit dem Handel von Wertpapieren. Die Möglichkeiten für Arbeiter*innen und Angestellte, Hypothekenkredite aufzunehmen, wurden vereinfacht.

Das billige Geld hielt zwar die Wirtschaft am Laufen, der Ankauf von oftmals faulen Wertpapieren durch die Banken befeuerte aber auch die ökonomische Blasenbildung.

In Reaktion auf den Lehman-Crash schließlich hatte die US-amerikanische Zentralbank Federal Reserve, ebenso wie die EZB, die Schleusen weit geöffnet und eine Flut an Geldwerten kreiert. Das Ziel: die Kreditzinsen zu senken und so über die Banken günstiges Geld für unternehmerische Investitionen sowie privaten Konsum bereitzustellen (quantitative easing). Das billige Geld hielt zwar die Wirtschaft am Laufen, der Ankauf von oftmals faulen Wertpapieren durch die Banken befeuerte aber auch die ökonomische Blasenbildung. Viel von dem Geld versickerte so einfach in den Finanzmärkten.

Gegenüber den südeuropäischen Ländern, die von der Krise besonders hart betroffen waren, forderte die deutsche Regierung im Verbund mit der sogenannten Troika (IWF, EU und EZB) indes einen radikalen Sparkurs, um Schulden abzubauen. Allen voran Griechenland wurde eine Innenpolitik aufgeherrscht, die zu Kürzungen im Sozialen, der Infrastruktur und bei den Löhnen führte. Dieser radikale »Eingriff« kann als eines der größten technokratischen Sozialexperimente seit Ende des Zweiten Weltkriegs gelten. Das Resultat: eine Verelendung großer Teile der arbeitenden Bevölkerung in diesen Ländern, eine wirtschaftliche Depression sowie ein enormer Anstieg der Schulden von Staaten und Unternehmen.

Nun stehen wir vor einer neuen Krisensituation: War es 2008 das Platzen einer Immobilienspekulationsblase, die den Crash des Finanzmarktes auslöste, steht die »Corona-Krise« deutlich im Zeichen eines Einbruchs der Produktion.

Die Frage, welche Auswirkungen die zeitweilige Stilllegung ganzer Produktions- und Wirtschaftszweige langfristig haben wird, hängt nun auch entscheidend davon ab, ob die Krise der Realwirtschaft auf das ohnehin sehr fragile Finanzsystem übergeht – etwa Unternehmen und Privatleute Kredite massenhaft nicht mehr bedienen können oder fallende Börsenkurse größere Anleger zu Fall bringen. Verhindern soll einen solchen Dominoeffekt auch in der aktuellen Krise ein altbewährtes Instrument: mehr Geld. Damit jedoch wird sich auch die strukturelle Schieflage des Finanzsystems weiter verschärfen.

Marco Schroeder

Marco Schroeder lebt in Berlin und beschäftigt sich mit experimenteller Musik und marxistischer Theorie.