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|ak 656 | Geschichte |Reihe: '89. Eine ak-Serie

Das jähe Ende eines Aufbruchs

Vor 30 Jahren entstanden in der DDR mehr als 100 neue Zeitungen. Ihr Scheitern ist ein wichtiges Kapitel linker DDR-Geschichte

Von Sebastian Friedrich

Sie konnten die vorgefertigten Sprechblasen nicht mehr ertragen, sagt Jan Peter heute. Er meint die offiziellen Zeitungen und Zeitschriften der DDR, denen er gemeinsam mit Freund*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen etwas entgegensetzen wollte. »Wir hatten einen unglaublichen Hunger danach, eben etwas anders zu machen als vorher«, sagt Peter mit Blick auf die DAZ, Die Leibziger Andere Zeitung.

Es war im Januar 1990, als die erste offizielle Ausgabe der DAZ erschien. Zu dieser Zeit entstanden in der ganzen DDR diverse neue Zeitungen; etwa 100 Zeitungsneugründungen gab es zwischen Januar 1990 und dem Ende der DDR. Einige davon nennen sich »andere Zeitung«, teilweise ohne von den gleichnamigen Zeitungsprojekten in den anderen Städten zu wissen. Die bekannteste neben der DAZ in Leipzig ist die Andere Zeitung aus Berlin, die aus dem Umfeld der linken SED-Opposition hervorging.

Pressefrühling in der DDR

Im Vergleich zu der Anderen Zeitung aus Berlin war die DAZ vielleicht etwas anarchischer, meint Peter, politisch war die DAZ trotzdem: »Klar, grundsätzlich links waren einfach alle, und wir wollten einen menschlichen Sozialismus – ohne dass wir wirklich wussten, was das heißt.«

Am Anfang hatte Peter mehrere Pseudonyme, füllte damit die ersten Ausgaben der DAZ fast alleine. Schnell wuchs die Redaktion, auch die Auflage schnellte in die Höhe. Bis zu 40.000 Exemplare verkaufte die DAZ zu Spitzenzeiten jede Woche.

Wenn Peter heute in die DAZ-Ausgaben von dreißig Jahren blickt, fällt ihm vor allem eines auf: Das Blatt besteht aus Bleiwüsten: lange Texte, Floskeln eher Fehlanzeige. »Die Worthülsen hingen uns einfach zum Halse raus, allen Menschen in der DDR. Und deswegen ging es darum und viel zu schreiben. Wir waren nicht knapp. Wir haben am Ende immer die Schriftgröße verändert, noch nen Punkt kleiner gemacht, um noch mehr Text reinzukriegen. Wir hatten alle viel zu sagen und am Anfang hatten die Leute auch Lust, auch wahnsinnig viel zu lesen.« Zeitungen waren im Leseland DDR ohnehin sehr beliebt.

Die DAZ war eine Mischung aus Stadtmagazin, Kulturzeitschrift und Szeneblättchen. Neben einem Veranstaltungskalender gab es Interviews und lange Essays – etwa über Armenien, Georgien, Abhandlungen über Lenin und darüber, wie richtiger Sozialismus funktionieren könnte. Aufnahmen von Redaktionssitzungen, die das DDR-Fernsehen damals machte, zeigen etwa zwei Dutzend Menschen, die meisten wohl Anfang zwanzig, mit runden Brillen und langen Haaren, diskutierend, lachend, mit den Armen gestikulierend. (1)

Die Kommunikationswissenschaftlerin Mandy Tröger hat zur Transformation der Presselandschaft 1989/90 geforscht. Sie nennt die Zeit, in der sich die meisten Zeitungen gründen, »Pressefrühling«. Viele der ersten Zeitungsneugründungen seien aus den Bürgerbewegungen hervorgegangen, wollten politische Informationsarbeit neu liefern.

Der Pressefrühling war Teil einer umfassenden Medien-Wende. Parallel zu den Zeitungsneugründungen waren sowohl im DDR-Fernsehen als auch im Rundfunk neue, kritischere Töne zu hören. Auch in den etablierten DDR-Zeitungen gab es Reformen. Zudem sollte ein von der Volkskammer eingesetzter Medienkontrollrat, später auch ein eigenes Medienministerium, die neuen Freiheiten der Medien flankieren – und schützen. Es ging um einen dritten Medienweg – zwischen staatlicher Zensur und entfesselter Marktwirtschaft, wie es der Journalist Günter Herkel treffend beschrieben hat. (2)

Westdeutsche Verlage »bereinigen« den Markt

Der Medienaufbruch hatte schnell mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Ressourcenknappheit machte den neuen Zeitungen zu schaffen, auch der Wegfall staatlicher Subventionen ab April 1990 für Zeitungen wirkte sich negativ aus. Schwerwiegender war aber, dass längst westdeutsche Verlage auf dem neuen Markt mitmischten – vorsichtig formuliert. Drastischer formuliert: Große Verlage aus dem Westen haben sich den DDR-Markt unter den Nagel gerissen.

Mandy Tröger erzählt von früher Lobbyarbeit westdeutscher Großverlage und deren aggressiven Marktstrategien, von intransparenten Treffen und den Machenschaften der DDR-Administration und westdeutschen Verlagen. Konkret geht es um vier Großverlage aus dem Westen, die sich im März 1990 die Vertriebsgebiete der DDR unterteilten und die jeweiligen Produkte der anderen zu Dumpingpreisen mitvertrieben. Das Kapital kann durchaus kooperieren – wenn es gut für’s Geschäft ist. Tröger erzählt auch von ungebrochenen Presse-Monopolen: Schnell in westdeutscher Hand, blieben ehemalige SED-Bezirkszeitungen dominant und begünstigten Konzentrationsprozesse auf einem nun »freien« Pressemarkt. Nicht zuletzt wurden kleine linke Zeitungen so vom westdeutschen Kapital plattgemacht.

Faktische Einschränkung der Pressefreiheit

Für die kleinen Zeitungen war dieses neue Vertriebssystem der West-Verlage auf DDR-Gebiet mehr als eine Unwägbarkeit. Die Vertriebskosten der DAZ explodierten, so Peter. »Auf einen Schlag war quasi unsere ganze Zeitung, unser ganzes Geschäftsmodell nicht mehr existent. Wir haben dahin wirklich gedacht, wir verkaufen Zeitungen für eine Mark und behalten 80 Pfennig übrig. Aber wir haben sie für eine Mark fünfzig verkauft und nichts übrig behalten und draufgezahlt.« Aber die DAZ war angewiesen auf die neue Vertriebsstruktur, denn das alte DDR-System funktionierte nicht mehr. Um ein eigenes Vertriebssystem aufzubauen, fehlten Geld und Zeit.

Kartellrechtlich wäre die Verknüpfung von Verlags- und Vertriebswesen in der BRD wohl kaum möglich gewesen. Die erodierenden DDR-Institutionen wollten gegensteuern: Das nach den Volkskammerwahlen im März 1990 eingerichtete Ministerium für Medienpolitik erließ noch im Mai 1990 eine Verordnung, nach der der verlagsabhängige Vertrieb illegal war. Medienminister Gottfried Müller (CDU) sprach mit Blick auf das Vertriebssystem in einem Brief an den Axel-Springer-Verlag sogar von einer »faktischen Einschränkung der Pressefreiheit«. Einschränkung der Pressefreiheit nicht wegen staatlicher Zensur, sondern wegen entfesselter Marktwirtschaft.

Neben dem Wegfall der Subventionen und dem neuen Vertriebssystem machte auch der Preiskrieg der West-Verlage der ostdeutschen Presselandschaft schwer zu schaffen. Tröger weist darauf hin, dass ab März 1990 systematisch Zeitungen aus dem Westen in die DDR eingeführt wurden. »Auf der Suche nach zukünftigen Lesern haben die Westverlage sehr, sehr früh ihre Zeitungen anstatt zu einem Wechselkurs von 1:3 zu einem Wechselkurs von 1:1 verkauft.« Für die West-Verlage kurzfristig ein Verlustgeschäft, langfristig aber »marktbereinigend«. »Die großen Verlage hatten natürlich eine viel bessere Kriegskasse als kleine Zeitungen wie die DAZ«, so Jan Peter.

Das eine sind die wirtschaftlichen Interessen westdeutscher Verlage. Diese konnten sich aber nur derartig entfalten, weil sich die ökonomischen Interessen der Verlage mit den politischen Interessen der Bundesregierung überschnitten. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Tröger in ihrer Dissertation. (3) Das Bundesinnenministerium begrüßte die Importe westdeutscher Presseprodukte nicht nur, sondern ermutigte die Verlage trotz rechtlicher Grauzone, direkt ihre Zeitungen in der DDR zu vertreiben. Offiziell gab es ein Abkommen zwischen der BRD und der DDR, das einen wechselseitigen Presseaustausch ermöglichen sollte – unter ungleichen Voraussetzungen, wie Tröger in ihrem Buch schreibt: »Denn eine materiell und technisch überlegene, kommerziell organisierte Presse eines übersättigten BRD-Marktes traf so auf eine unterversorgte Presselandschaft, die weder kommerziell organisiert war noch die nötigen technischen oder materiellen Voraussetzungen für zusätzliche Exportkapazitäten hatte (Beispiel Papierknappheit).« Tröger schreibt treffend, wie aus einem formalen Austausch eine durch die Politik legitimierte Einbahnstraße wurde.

Die Bundesregierung wollte eine schnelle Einheit, also die Übernahme der DDR. Dafür musste ein starkes Ergebnis bei den Volkskammerwahlen im März 1990 für Parteien her, die diesen Kurs unterstützten. Der Informationsfluss über westdeutsche Zeitungen sollte da behilflich sein.

Die Geschichte der Übernahme im Brennglas

Die Geschichte der verblühten Presselandschaften im Osten ähnelt den Geschichten der Treuhand, auch wenn diese selbst im Medienbereich zumindest in der Anfangszeit gar keine Rolle spielte. Die West-Verlage hatten sich den Pressebetrieb bereits aufgeteilt, bevor die Treuhand überhaupt auf der Bildfläche erschien. Ein demokratischer Aufbruch im Osten, sich Bahn brechende Interessen der BRD-Regierung und des westdeutschen Kapitals, die Durchsetzung des Kapitalismus auf Kosten der ostdeutschen Demokratiebewegung – das Ende des Pressefrühlings im Osten ist die Geschichte der Übernahme im Brennglas.

Die Leipziger DAZ überlebte das zweite Jahr nicht. Unabhängige Zeitungen hatten nur dann eine Zukunft, wenn sie sich mit den West-Verlagen zusammentaten, und so gingen Zeitungsneugründungen schnell wieder ein. An die DAZ erinnert heute in Leipzig nichts mehr. Einzig die Kulturbeilage der DAZ hat überlebt: der Kreuzer, das wichtigste Stadtmagazin der Stadt.

Das jähe Ende des Medienaufbruchs ist nicht die einzige, aber sicherlich eine Ursache für die Situation in Ostdeutschland, meint Tröger. Sie ärgert sich vor allem über die weit verbreitete Deutung, die Stärke der Rechten im Osten sei auf ein angeblich mangelndes Demokratieverständnis der Ostdeutschen zurückzuführen. Sie erinnert an den Herbst 1989, der ein zutiefst demokratischer Moment gewesen sei, und empfiehlt einen Perspektivwechsel. »Die Wendeerfahrung ist auch eine Erfahrung der Desillusion, besonders der Bewegung von unten, die auf so vielen Ebenen kaputt gemacht wurde. Es zählten vor allem politische und wirtschaftliche Interessen des Westens.« Mit der DAZ und Co. wurde ein Teil linker Gegenöffentlichkeit und eine Möglichkeit selbstkritischer ostdeutscher Selbstverständigung zerstört.

In der Medienbranche wurde in den vergangenen Monaten darüber diskutiert, dass Ostdeutsche zu wenig repräsentiert sind – in den Redaktionen im Allgemeinen, in den Chefetagen der Medien im Besonderen. Und heute gibt es im Osten eine im Kern von Westverlagen dominierte Eigentümerstruktur. Für Jan Peter aus Leipzig ist das nur ein Teil des Problems. Für eine bürgerliche Gesellschaft brauche es Bürger*innen, Kapitalist*innen – doch die gebe es im Osten fast nicht, meint Peter.

Die Fakten sprechen hier für sich: Im Ranking der 500 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland befinden sich laut der Tageszeitung Die Welt nur 16 in den ostdeutschen Bundesländern – und die gehören meist westdeutschen oder internationalen Mutterkonzernen. Im Medienbereich sind die Größenverhältnisse ähnlich. Das Manager Magazin fasste Anfang Oktober die Situation so zusammen: »Der Kapitalismus ist vor 30 Jahren in den Osten zurückgekehrt, doch das Kapital hat seine Heimat im Westen.«

Sebastian Friedrich

ist Journalist und Autor aus Hamburg. 2019 erschien beim Berliner Bertz und Fischer Verlag sein Buch »Die AfD. Analysen, Hintergründe, Kontroversen« in dritter und überarbeiteter Auflage.

Anmerkungen:
1) Siehe dazu einen Beitrag des NDR-Medienmagazins Zapp: Verblühte Presselandschaften in Ostdeutschland, Zapp vom 2.10.2019.
2) Günter Herkel: Zwischen staatlicher Zensur und entfesselter Marktwirtschaft. In: Menschen Machen Medien Nr. 2/2019, S. 6-9.
3) Mandy Tröger: Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten. Herbert von Halem Verlag, Köln 2019.