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|ak 659 | Geschichte

Befreit aus eigener Kraft

Vor 75 Jahren: Jugoslawiens hoffnungsvoller Neuanfang unter kommunistischer Führung

Von Paul Michel

Jugoslawien war neben Griechenland das einzige Land, in dem es gelang, die Nazibesatzer und ihre einheimischen Hilfstruppen aus eigener Kraft zu besiegen. In beiden Befreiungsbewegungen spielten Kommunist*innen eine entscheidende Rolle. In Jugoslawien war die Lage für den Widerstand zusätzlich durch ethnische Feindseligkeiten erschwert. Das von den Nazis geförderte Ustasha-Regime Kroatiens schlachtete Hunderttausende von Serb*innen, Jüdinnen und Juden ab. Die ein Großserbien anstrebenden Cetniks verübten zahlreiche Kriegsverbrechen an serbischen, kroatischen, albanischen und bosnischen Zivilist*innen. Mit ihrer Politik »Brüderlichkeit und Einheit« trug die Partisanenbewegung den Widersprüchen zwischen den verschiedenen Ethnien Rechnung. Praktisch ohne Unterstützung durch die Sowjetunion und gegen den Willen des britischen Premiers Winston Churchill wurde sie zur schlagkräftigen und mit Abstand stärksten Partisanenbewegung Europas.

90 Prozent für die Nationale Befreiungsfront

Wenn sie schon keine Hilfe bekamen, wollten die jugoslawischen Partisan*innen sich auch von niemandem, auch nicht von Stalin, etwas vorschreiben lassen. So bildeten sie »proletarische Brigaden«, deren Kennzeichen der rote Stern an der Mütze war – obwohl Stalin den Namen und den roten Stern ablehnte, weil das zu deutlich ihre kommunistische Orientierung erkennen lasse und bei den Verbündeten USA und Großbritannien nicht gut ankommen würde. Auf dem zweiten Treffen des Antifaschistischen Rats der nationalen Befreiung (AVNOJ) Ende November 1943 in Jajce wurde dann eine provisorische Regierung gebildet, die der königlichen Exilregierung in London die Legitimität absprach. Dieser Schritt und das Verbot für König Peter, in das Land zurückzukehren, wurden in Moskau als ein »Dolchstoß in unseren Rücken« verurteilt.

Belgrad wurde dann am 20. Oktober 1944 zwar maßgeblich von der Roten Armee befreit. Josip Brosz Tito (1892-1980), Anführer und »Marshall« der Partisanenbewegung, legte aber Wert darauf, dass die Rote Armee alsbald wieder jugoslawisches Territorium verließ. Die von den Nazis und dem kroatischen Ustasha-Regime kontrollierten Teile Jugoslawiens befreiten die jugoslawischen Partisan*innen dann allein und unter großen Verlusten.

Zum Ende des Krieges war die Partisanenbewegung die dominierende Kraft. Ihre Armee umfasste jetzt etwa 800.000 Menschen. Bei der Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung am 11. November 1945 errang die Nationale Befreiungsfront, getragen von einer Welle der Begeisterung, ca. 90 Prozent der Stimmen. Zu den Schattenseiten der Nachkriegsjahre gehörte dann die von den Partisan*innen vollzogene harte Vergeltung für die während der Nazibesatzung von Ustasha und Cetniks verübten Grausamkeiten. Massenexekutionen waren keine Seltenheit.

Bei Kriegsende, im Mai 1945, waren die Lebensbedingungen in Jugoslawien katastrophal. Das wirtschaftlich wenig entwickelte Agrarland war im Krieg furchtbar verwüstet worden. 1,7 Millionen Menschen, elf Prozent der Gesamtbevölkerung, hatten ihr Leben verloren. Die Infrastruktur war zerstört, es herrschte Lebensmittelknappheit, die Gesundheit der Bevölkerung war in Folge von Kriegsverletzungen und Versorgungsmängeln verheerend.

Unterernährt, überarbeitet und unter Bedingungen großen Mangels an Ressourcen machten sich die Menschen an den Wiederaufbau von Häusern, Brücken, Straßen, Eisenbahnlinien und versuchten, Fabriken wieder in Gang zu setzen. Ganz nach sowjetischem Vorbild setzte Titos Partisanenregierung auf eine schnelle Industrialisierung und den Aufbau der Schwerindustrie, die von einer streng hierarchisch strukturierten zentralen Bürokratie in Belgrad gesteuert wurde. Obwohl sie zur Sowjetunion als dem großen Vorbild aufblickten, waren die Jugoslaw*innen entschlossen, selbst darüber zu entscheiden, was sie tun und lassen wollten. Der Stolz auf die Befreiung aus eigener Kraft war Grundlage des ausgeprägten Selbstbewusstseins der jugoslawischen Kommunist*innen.

Der Bruch mit Stalin und die Reaktion der Westmächte

Dies wurde zunächst in der Außenpolitik deutlich, wo die neue jugoslawische Regierung eine radikalere Linie als die Sowjetunion verfolgte. Während Stalin in den Jahren 1946 bis 1947 versuchte, die Ängste des Westens zu zerstreuen und die Sowjetunion als konstruktiven Partner beim Wiederaufbau nach dem Krieg zu präsentieren, verfolgte die Tito-Regierung entschlossen ihre eigenen Interessen – bis an den Rand von militärischen Auseinandersetzungen. Ihr Anspruch auf Triest führte zu heftigen Konflikten mit den USA und Großbritannien. Weil sie dabei von der Sowjetunion nicht die gewünschte Unterstützung erhielt, brachte die selbstbewusste jugoslawische Regierung gegenüber der sowjetischen Führung deutlich ihre Missbilligung zum Ausdruck. Gegen Stalins Befehl leistete Jugoslawien den kommunistischen Rebell*innen Griechenlands Hilfe. Zudem machte die jugoslawische Führung Anstalten, zusammen mit Bulgariens kommunistischem Regierungschef Georgi Dimitroff (1882-1949) eine Balkan-Konföderation zu bilden. Dabei handelte es sich um ein seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verfolgtes linkes Projekt bis hin zu einem Zusammenschluss verschiedener Balkanstaaten.

Das ging Stalin zu weit. Am 28. Juni 1948, dem 559. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, erfuhr die Welt durch eine Zeitungsmeldung vom Rauswurf Jugoslawiens aus dem Kommunistischen Informationsbüro (Kominform), einem Bündnis kommunistischer Parteien zwischen 1947 und 1956. Ab Ende 1948 sah sich Jugoslawien einer vollständigen Wirtschaftsblockade durch die Kominform-Länder ausgesetzt. Dadurch kamen die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Jugoslawien und den Ländern des »Ostblocks« bis zum Jahr 1950 zum Erliegen.

Die USA und ihre Verbündeten erwiesen sich in dieser Situation als erstaunlich flexibel. Die Aussicht, mit einem geduldigen Auftreten den bisher scheinbar engsten Verbündeten Moskaus aus dem sowjetischen Block herauslösen zu können, war der US-Administration Anreiz genug, Jugoslawien die geforderte »Hilfe ohne Bedingungen« zu gewähren. Ihre Notfallhilfe verhinderte im November 1949 den Ausbruch einer Hungersnot in einigen Regionen Jugoslawiens.

Arbeiterselbstverwaltung und Marktkonkurrenz

Seit Frühjahr 1949 begann die jugoslawische KP-Führung erste Umrisse dessen zu entwickeln, was später als Arbeiterselbstverwaltung firmierte. Ausgehend von dem Marxschen Gedanken, wonach im Sozialismus der Staat »absterben« solle, taten sich besonders der Parteitheoretiker Edward Kardelj und eine Reihe von Akademikern hervor. Mit dem Gesetz über die Verwaltung der staatlichen Wirtschaftsunternehmen vom Juni 1950 wurde die Arbeiterselbstverwaltung offiziell institutionalisiert. Das Gesetz wurde ab 1952 auf alle Bereiche und insbesondere auf die Sozialeinrichtungen (Krankenhäuser, Kinderkrippen, Schulen) ausgedehnt und führte im Rahmen des kollektiven Eigentums einen neuen Status für die Arbeiter*innen ein, der sich allerdings im Zuge der verschiedenen Reformen wandelte.

Fast parallel dazu wurde eine kommunale Selbstverwaltung eingeführt, wo über neue Formen direkter Demokratie die Menschen ihr Leben in die eigene Hand nehmen sollten. Insbesondere die frühen 1950er Jahre verliefen chaotisch und gleichzeitig in bestimmten Bereichen erstaunlich kreativ. Bei all den Widersprüchlichkeiten, die für die 1950er Jahre kennzeichnend sind, wurden doch erstaunliche Dinge in Sachen »direkter Demokratie« ausprobiert.

Allerdings setzte das neu erfundene System der Arbeiterselbstverwaltung neben dieser emanzipatorischen Seite von Beginn an Destruktivkräfte frei: die Kräfte des Marktes. Diese verstärkten bestehende soziale Ungleichheiten innerhalb der Belegschaften und zwischen Arbeiter*innen und Management. Und sie förderten nicht die solidarische Kooperation, sondern die Konkurrenz von Einzelbetrieben. Wo die Erzielung des Maximalgewinns für den eigenen Betrieb oberste Maxime ist, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt in Mitleidenschaft gezogen, bekommt die Ellenbogenmentalität die Oberhand gegenüber der Solidarität. Die jugoslawische Führung versuchte nicht, diese Dynamik einzudämmen. Im Verlauf der 1950er Jahren wurde die Wirkung von Marktmechanismen geradezu idealisiert und mit den Reformen am Anfang der 1960er Jahre zur bestimmenden Kraft.