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|ak 652 | Diskussion

Sozialpartnerschaft ist kein Betriebsunfall

Das Ambivalente an den Gewerkschaften gehört zur Ordnungsfunktion, die diese im Kapitalismus ausüben

Von Christian Frings

In ak 651 plädierte Torsten Bewernitz dafür, dass sich Syndikalist*innen mehr für die Gewerkschaften des DGB interessieren sollten. In dieser Ausgabe schreibt Christian Frings nun, weshalb er der Meinung ist, dass Gewerkschaften im Kapitalismus nicht beliebig gestaltbar oder reformierbar sind und Linke dort nichts gewinnen können. In der nächsten Ausgabe wird unsere Redakteurin Nelli Tügel darauf antworten und erklären, weshalb sie im Gegenteil denkt, dass die Gewerkschaften des DGB die mit Abstand wichtigsten Organisationen von Lohnabhängigen in der Bundesrepublik sind und Linke dort hingehören.

Vorab: Mit meinen Ausführungen will ich ganz bewusst vermeiden und davor warnen, dass wir uns auf sinnlose und erhitzte Polemiken für oder gegen Gewerkschaften einlassen.Ich will zunächst erst einmal ganz nüchtern verstehen, was Gewerkschaften sind und wie sich ihre Wesenszüge im Zusammenhang von kapitalistischer Klassengesellschaft erklären lassen. Nur wenn wir diese Zusammenhänge verstehen, können wir sinnvoll darüber reden, wie wir in der Praxis mit ihnen umgehen sollten.

1. Gewerkschaften sind im entwickelten Kapitalismus halbstaatliche Organisationen, die eine Ordnungs- und Befriedungsfunktion erfüllen.

Gewerkschaften als Massenorganisationen in ihrer heutigen Form haben sich in Westeuropa ab Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet, in den USA etwas später, in der Zeit des New Deals in den 1930er Jahren. Wesentlich für ihre Existenz und Stabilität ist, dass sie von den Unternehmern und dem Staat als die exklusiven Vertreter der lohnarbeitenden Menschen anerkannt und in vielfältiger Form an staatlichen Einrichtungen beteiligt werden. In Deutschland geschah dies zuerst mit den Bismarckschen Reformen, die eine Selbstverwaltung der gesetzlichen Sozialversicherungen mit Drittelparität einführten. Für Sozialdemokratie und Gewerkschaften entstanden dadurch vielfältige neue Jobs. Der große Schrittmacher der Anerkennung und wie Historiker*innen sagen »Befestigung« der Gewerkschaften war, nicht nur in Deutschland, der Erste Weltkrieg. Mehr noch als die Unternehmer drängten die obersten Militärs darauf, die Gewerkschaften in betriebliche Ausschüsse mit einzubeziehen, weil ihnen klar war, dass diese völlig neue Form des Krieges als industrieller Materialschlacht nur zu führen war, wenn sie die Vertreter der Arbeiterschaft dafür gewinnen konnten, sich aktiv an der Sicherung der Ordnung und Ruhe in den Fabriken zu beteiligen. In diesen Arbeiterausschüssen haben unsere heutigen Betriebsräte ihre historischen Wurzeln – nicht in den Arbeiterräten der Novemberrevolution, wie viele glauben.

Warum es sinnvoll ist, von halbstaatlichen Organisationen zu sprechen, lässt sich an einem historischen Beispiel erläutern, das zugleich hochaktuell ist. Unmittelbar nach dem von den Kieler Matrosen herbeigeführten Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Revolution hatten sich Unternehmer und Gewerkschaftsführer im sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen am 15. November 1918 auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit geeinigt. Gewerkschaften und Tarifverträge wurden anerkannt und der Acht-Stunden-Tag eingeführt, im Gegenzug nahmen die Gewerkschaften Abstand von der virulenten Sozialisierungsforderung. Acht Tage später wurde der Acht-Stunden-Tag durch eine staatliche Verordnung festgeschrieben, erhielt also Gesetzesrang. Dann passiertes etwas sehr Interessantes, das selten beachtet wird. Es wurde das sogenannte Tarifdispositiv eingeführt, das in der gesamten Konstruktion des bürgerlichen Rechts ein Unikum darstellt. Im Gesetz wurde festgelegt, dass von der Rechtsnorm auch zu Ungunsten der Beschäftigten abgewichen werden kann, wenn dies durch einen Tarifvertrag geregelt ist. Faktisch erhielten damit Gewerkschaften eine Beteiligung an der Setzung von Rechtsnormen, die nach dem Prinzip der Gewaltenteilung im bürgerlichen Staat eigentlich dem Gesetzgeber, also den Parlamenten, vorbehalten ist. Auf diese Weise konnte der formell geltende Acht-Stunden-Tag auf der betrieblichen Ebene schon bald wieder ausgehebelt werden.

Dieses Institut des Tarifdispositivs, auch Tariföffnungsklausel genannt, wurde nach 1945 beibehalten und sogar ausgebaut. Gewerkschaften haben es schon immer genutzt, um Vorteile für die Stammbelegschaften auf Kosten der Randbelegschaften aushandeln zu können – z.B. wurde der Anspruch auf Urlaubsgeld, den laut Gesetz jede und jeder hat, durch einige Tarifverträge erst ab sechsmonatiger Beschäftigungsdauer gewährt. Heute ist dieses Tarifdispositiv etwas stärker in die Diskussion geraten, weil damit systematisch und auf breiter Front der Anspruch von Leiharbeiter*innen auf gleiche Bezahlung unterlaufen wird. Nachdem mit der Neuregelung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes von 2017 die Überlassungsdauer auf 18 Monate beschränkt wurde, nutzte die IG Metall das im Gesetz enthaltene Tarifdispositiv sogleich, um mit ihren Tarifverträgen eine Überlassungsdauer von bis zu 48 Monaten möglich zu machen.

Warum ist das so? Sind da böse Bürokratinnen am Werk? Oder hat das ganze eine Logik im System, der die Gewerkschaftsfunktionärinnen auch nur ausgeliefert sind und die sie befolgen müssen?

2. Gewerkschaften sind an eine Tarifordnung gebunden, die ihnen vorgegeben ist. Diese Tarifordnung ist ein Ausdruck des verdinglichten Fetischcharakters des Kapitals, der sich nicht einfach voluntaristisch aufheben lässt.

Kapitalismus funktioniert nur, weil die Realität der Ausbeutung, die Realität der Klassengesellschaft immer wieder hinter Formen der Gleichheit und Gerechtigkeit verschwindet und sich ein Schein von Harmonie einstellt. Karl Marx macht sich in seiner Kritik der politischen Ökonomie erdenkliche Mühe, nicht nur zu erklären, wie Ausbeutung funktioniert, sondern auch wie sie mit einer gewissen Zwangsläufigkeit unsichtbar gemacht und verschleiert wird. Dreh- und Angelpunkt dieser Verschleierung ist das Institut der Lohnarbeit. Ich trete als freier und gleicher Warenbesitzer auf den Arbeitsmarkt und verkaufe meine Ware, scheinbar die Arbeit. Dafür erhalte ich einen »gerechten« Lohn und alles ist gut. In Wirklichkeit, so Marx, habe ich aber meine Arbeitskraft, mein bloßes Vermögen, Arbeit verrichten zu können, verkauft. Und dieses Vermögen kostet nicht mehr, als es irgendwie am Leben zu erhalten, sprich, mich durchzufüttern. Das ist der Tauschwert meiner Ware. Ihr Gebrauchswert ist die lebendige Arbeit, das was ich dann unter den Anweisungen des Käufers meiner Ware tun muss – und aus diesem Gebrauchswert meiner Ware entspringt der Mehrwert. Die Schizophrenie von formaler Gleichheit und realer Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich also mit den Gleichheits- und Freiheitsillusionen des Warentauschs zur Deckung bringen. Schon der Begriff »Lohn« enthält diese Verschleierung, weil wir bei Lohn an »Bezahlung der Arbeit« denken.

In seinem Buch »Das Kapital« spielt Marx dieses widersprüchliche Verhältnis von freien Warenbesitzern auf dem Arbeitsmarkt und geknechteten Lohnarbeiter*innen in der Produktion auf allen Ebenen der Produktion, der Zirkulation und der Verteilungsformen auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft durch und gelangt am Schluss des dritten Bandes dazu, wie sich in dieser verdrehten Welt der Erscheinungsformen die Verteilung des Gesamtprodukts auf die Gesellschaftsklassen darstellt. Er nimmt dafür in ironischer Weise einen Begriff aus der christlichen Theologie, der vielleicht heute nicht mehr allen so geläufig ist wie damals: Die trinitarische Formel, also die Dreifaltigkeit und Dreieinigkeit von Gott Vater, Heiligem Geist und Sohn Jesus. Marx will sagen: Genauso mystisch und verzaubert wie in dieser religiösen Vorstellung müssen die Menschen zwangsläufig über die Verteilung des Gesamtprodukts denken. Da gibt es keine Ausbeutung mehr, sondern die drei Produktionsfaktoren Kapital, Arbeit und Boden tragen gleichermaßen harmonisch zum Gesamtprodukt bei und teilen sich am Ende genauso harmonisch das Produkt unter sich auf. In der Sprache der Gewerkschaften heißt das heute »produktivitätsorientierte Lohnpolitik« – die Beschäftigten sollen gerecht an der gesteigerten Produktivität beteiligt werden. Das heißt: Sozialpartnerschaft ist kein Betriebsunfall, sondern sie ist systematisch in den mystifizierenden Erscheinungsformen, im Fetischcharakter des Kapitals angelegt. Und dieser Fetischcharakter des Kapitals ist keine Bewusstseinsform, nicht einfach Ideologie, die ich mal so zur Seite legen könnte, sondern eine handgreifliche Verkehrung, die sich in sämtliche rechtlichen und staatlichen Strukturen und Institutionen eingeschrieben hat.

3. Daher sind Gewerkschaften nicht beliebig gestaltbar oder reformierbar. Sie sind in ihrer Funktionsweise und ihrem Handeln an diese Tarifordnung, die sogenannte Tarifautonomie, gebunden. Gewerkschaft kommt von Tarifvertrag nicht umgekehrt.

Unter Linken wird Tarifvertrag oft nur als ein Schutz oder eine Sicherung gesehen, aber es handelt sich um Verträge. Was wird getauscht? Die Unternehmer garantieren einen bestimmten Lohn und bestimmte Arbeitsbedingungen, also dass die Arbeitskraft, die sie ausbeuten wollen, ordentlich bezahlt wird, damit die Arbeitskraft erhalten bleibt, das Elend der Lohnarbeiterexistenz sich reproduzieren kann. Dafür muss die Vertragspartnerin, die Gewerkschaft, garantieren, dass der Unternehmer den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft auch ordentlich gebrauchen, also den Lohnabhängigen ausbeuten kann, damit Mehrwert und Profit herauskommen. Aus diesem simplen Deal ergeben sich logisch und zwangsläufig all die unangenehmen Begleiterscheinungen, über die sich aufrechte Linke immer empören: Dass Streiks verhindert werden, dass der/die normale Gewerkschaftsfunktionär*in ein Kontrollfreak ist, dass es in Gewerkschaften höchst undemokratisch zugeht usw. Gleichzeitig muss sie sich glaubhaft als »Interessenvertreterin« darstellen können, um ihre Mitglieder zu behalten, aus deren Beiträgen schließlich der ganze Apparat finanziert wird. Also muss sie auch mal streiken, die kämpferische Haltung herauskehren, weil sie anders ihre Ordnungsfunktion gar nicht erfüllen könnte. Daher das Schillernde, Ambivalente, Hoffnungen weckende und Hoffnungen zerschmetternde an dem Institut Gewerkschaft, das die Linken so kirre macht und über das sie sich mit der Formel vom »Doppelcharakter der Gewerkschaften« hinwegzutrösten versuchen.

4. Für die Praxis bedeutet dies, dass wir uns zu diesen Gebilden wie auch zu anderen Verdinglichungen – wie Geld, Warenform oder Recht und Staat – pragmatisch verhalten sollten. Das heißt: Weder Illusionen in sie setzen, noch unsere Energien in sinnloser Empörung vergeuden.

Mein Plädoyer ist daher: Ja, wir müssen uns mit den Gewerkschaften beschäftigen, wir müssen sie verstehen und analysieren, weil sie ein wichtiger Faktor im Klassenkampf sind – so wie es der Staat und die Polizei, das Justizwesen und die Unternehmerstrategien auch sind. Wir können uns an vielen Orten dieser Gesellschaft an Klassenkämpfen beteiligen, zu ihrer Radikalisierung beitragen, und helfen, dass Menschen sich als Subjekte der Geschichte und nicht nur als deren Opfer erfahren. Denn die Opfermentalität ist das, was die Menschen am schnellsten in die Illusion treibt, ein starker Staat sei ihre einzige Rettung. Ich denke allerdings, dass die Arbeit innerhalb der Gewerkschaften der denkbar schlechteste Ort ist, um solche Prozesse voranzubringen. Am Vorabend der Machtergreifung der Faschisten sprach Karl Kraus in einer berühmten Rede vom 29. September 1932 davon, dass die Sozialdemokratie (womit er auch die Gewerkschaften meinte) nur noch als »staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien« fortwirke. Das wäre meine Sorge heute: Dass wir unsere revolutionären Energien an der falschen Stelle und in unsinnigen Polemiken verbrauchen lassen, statt einfach mit den ausgebeuteten Menschen in dieser Gesellschaft zusammenzukommen, die nur darauf warten, ihre Ausbeuter zu bekämpfen.

Christian Frings

ist Aktivist, Autor und Übersetzer (u.a. von David Harvey).