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|ak 659 | Antirassismus & Antifaschismus

Lückenlos aufklären müssen wir selbst

Der allem Anschein nach rassistische Mord von Celle kam nicht »aus dem Nichts« – lasst uns daraus endlich Schlüsse ziehen

Von Gürsel Yıldırım

Der 15-jährige Arkan Hussein K. wurde am 7. April in Celle ermordet. Der junge Ezide war 2014 vor dem Islamischen Staat aus Şengal/ Irak geflohen. Hier erinnert ein Gedenkort in Dresden an ihn. Foto: Betreiber:innenkollektiv Kosmotique

Einen Monat nach dem rassistischen Massaker von Hanau tauchten in Hamburg Plakate mit den Gesichtern und Namen der Ermordeten auf. Unter dem Motto #saytheirnames riefen Aktivist*innen dazu auf, sie nicht zu vergessen. Die Plakate sind die einzigen Spuren, die im öffentlichen Raum an die Opfer von Hanau erinnern. Am 7. April 2020 dann wurde der 15-jährige Arkan Hussein K. von einem 29 Jahre alten Herkunftsdeutschen in Celle ermordet. In den sozialen Medien lesen wir wieder die gewohnten Sprüche, auch von linken Aktivist*innen: »Ich fass es nicht, schon wieder ein rassistischer Mord! Es wird immer schlimmer« und so weiter. 

Dass es noch schlimmer werden würde, hatte bereits Çetin Gültekin, der Bruder des in Hanau ermordeten Gökhan Gültekin, auf der Hanauer Kundgebung am 23. Februar gesagt: »Wir sind im Stich gelassen worden. Passt bitte euch auf, auf eure Kinder, gebt auf euch acht, es wird nicht aufhören, es wird noch schlimmer.« Çetin Gültekin warnte uns Migrant*innen vor den weiteren Gefahren, die von Nazis ausgehen.

Was er vor den Tausenden Menschen auf der Trauerkundgebung am 23. Februar mit »Passt auf euch auf!« meinte, verstehe ich so: Verteidigt euch selbst! Abgesehen von Çetins Anspielung auf die Selbstverteidigung gegen Nazis spricht allerdings kaum jemand offen über die existenzielle Notwendigkeit antirassistischer Selbstverteidigung. Die Nazis sind, trotz der Corona-Regelungen, aktiv und morden weiter. Nach dem rassistischen Massaker von Hanau und nach der allem Anschein nach vorsätzlichen und rassistisch motivierten Tat in Celle sind wir dagegen noch immer auf die gewöhnlichen Rituale beschränkt.

Nach Hanau drückten bekannte Persönlichkeiten aus Zivilgesellschaft und Politik ihre Anteilnahme aus. »Rassismus ist ein Gift«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, »und hat Schuld an viel zu vielen Verbrechen in diesem Land«. Was ist die Schlussfolgerung daraus? Dass solche zahnlosen Sprüche in der Tagespolitik ohne konkrete, konsequente Folgen bleiben, wundert inzwischen niemanden. So wie der mutmaßlich rassistische Mord in Celle seitens der Ermittlungsstellen angegangen wird, scheinen diese nach dem bekannten Muster vorzugehen, wenn ein Nazitäter zufällig erwischt wird.

Mal wieder ein »verwirrter Einzeltäter«

Die kurdische Nachrichtenagentur ANF News zitierte die Polizei Celle und die Staatsanwaltschaft Lüneburg zum Tatverlauf einen Tag nach dem Mord, am 8. April, wie folgt: »Gegen 21.45 Uhr befuhr ein 15 Jahre alter Jugendlicher mit seinem Fahrrad die Bahnhofstraße stadteinwärts, als er plötzlich und unvermittelt und mutmaßlich auch grundlos von einem 29 Jahre alten Mann mit einem Stichwerkzeug schwer verletzt wurde. (…) Der mutmaßliche Täter mit deutscher Staatsangehörigkeit wurde durch die Zeugen festgehalten und den eintreffenden Polizeibeamten übergeben, die den Mann vorläufig wegen Verdacht des Totschlags festnahmen. Zur Motivlage des Beschuldigten gibt es bisher noch keine konkreten Anhaltspunkte. Bei seiner Festnahme wirkte der 29-Jährige verwirrt. Der Beschuldigte, der anwaltlich vertreten wird, hat bisher keine Angaben zur Sache gemacht.«

»Angriff aus dem Nichts«, titelte entsprechend die Cellesche Zeitung am Tag nach dem Mord und verwies dabei auf eine Polizeisprecherin. Die Ermittler*innen sprachen von einem »Zufallsopfer«. Mehr als eine Woche nach dem Mord von Celle mussten sie dann einräumen, ein rassistisches Motiv zu prüfen – nachdem Medien recherchiert hatten, dass der Täter über seine Social-Media-Konten Kontakt zu rechtsextremen Verschwörungsideologien hatte. Während Polizei und Staatsanwaltschaft zunächst davon gesprochen hatten, es gebe »in keiner Hinsicht Anhaltspunkte für eine ausländerfeindliche oder politisch motivierte Tat«, hieß es nun, man ermittele »in alle Richtungen« und schließe auch einen rechtsextremen oder rassistischen Tathintergrund nicht mehr aus.

Völlig zurecht stellte die Linken-Innenexpertin Martina Renner dem Redaktionsnetzwerk Deutschland gegenüber fest, dass erst »eine wache Erfahrung von Betroffenen rassistischer Gewalt, wie in der Vergangenheit entsprechende Anschläge und Morde vorschnell auf psychische Probleme des Täters als Erklärung verkürzt wurden, und erst öffentlicher Druck und alternative Recherchen ein anderes Motiv des Täters zeichneten«.

Aus Ermittlungskreisen hieß es, man ermittle nun zwar in alle Richtungen, bislang lägen bezüglich des Tatmotivs aber »keine ausreichenden Erkenntnisse vor«. Der Verhaftete habe sich »nicht zur Tat eingelassen«. Dennoch hatte man nach dem Mord vorschnell von einem »Angriff aus dem Nichts« gesprochen. Und das, obwohl Augenzeug*innen des Mordes von Celle berichteten, dass der Täter zuvor an einem Hauseingang gewartet hatte. Der weiße Jäger wartete auf sein potenzielles Opfer. Er zielte offenbar auf einen Menschen, der nicht bio-deutsch aussah. Der 15-jährige Arkan wurde von einem weißen Mann nicht »grundlos« mitten auf einer Straße attackiert, sondern offensichtlich bewusst und zielgerichtet.

Kurz nach dem Massaker von Hanau, bei dem am 19. Februar 2020 neun Migrant*innen von einem »psychisch kranken Einzeltäter«-Nazi erschossen wurden, wurde wieder einer von uns in Celle angeblich von einem »Einzeltäter« ermordet. Das Opfer könnte auch Ahmet oder Diallo heißen. Es könnte eine Frau oder ein junges Mädchen treffen, die/das ein Kopftuch trägt. Mit Arkan sind wir alle gemeint: Migrant*innen und Geflüchtete.

Laut ANF News sagten die Angehörigen, dass Arkan sich an der frischen Luft habe bewegen wollen. Auch die Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie schützen Migrant*innen nicht vor Nazis. Die Pressemitteilungen der Polizei Celle und der Staatsanwaltschaft Lüneburg deuten auf die uns bekannte Linie der deutschen Ermittlungsstellen, die wir bereits seit den 1990er Jahren kennen: Es ist eine Linie der Relativierung und Normalisierung rassistischer Attacken von völkisch gesinnten »besorgten Bürgern« und organisierten Nazis, die andere Nazis ermutigt zu morden.

Wenn der Täter im Anschluss an seine rassistische Attacke nicht durch die Zeug*innen festgehalten und den eintreffenden Polizeibeamt*innen übergeben worden wäre, hätten die Ermittler*innen leichtes Spiel gehabt. Der Mord an Burak Bektas 2012 in Berlin-Neukölln beispielsweise beschäftigt bis heute Angehörige, Anwält*innen und Aktivist*innen, die um Aufklärung und Gerechtigkeit kämpfen. Seit acht Jahren ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft trotz konkreter Hinweise auf den Täter erfolglos. Auch im Mordfall in Celle wäre wohl niemand »wegen Verdacht des Totschlags« festgenommen worden, wenn der Täter nicht von mutigen Augenzeug*innen festgehalten worden wäre.

Gut möglich, dass die von kritischen Journalist*innen recherchierten rechten Hintergründe des Täters für die juristische Abteilung der deutschen Institutionen nicht relevant sein werden. Diese Instanz, eine perfekt funktionierende Vertuschungsmaschinerie, ist im Endeffekt für die Reinwaschung des »deutschen Wesens« zuständig. Wenn der Täter von Celle zu seinem Motiv keine Angabe macht und der Strategie des Schweigens folgt, haben wir es mit einem weiteren »psychisch kranken Einzeltäter« zu tun, der am Ende durch juristische Tricksereien mit einem milden Urteil davonkommen könnte.

Die entpolitisierten Begründungen für ein weiteres Gerichtsurteil »im Namen des deutschen Volkes« liefern die Ermittlungsstellen. Während die Top-Ermittler*innen in den zahlreichen TV-Krimi-Serien jeden Tag vor Millionen von Zuschauer*innen rätselhafte Mordfälle – samt Motiven – lösen, sind die deutschen Beamt*innen in der Realität Flop-Ermittler*innen, wenn es um rassistische Morde geht.

Unabhängig und selbstorganisiert ermitteln

Auch vonseiten der potenziell von Rassismus betroffenen Migrant*innen und ihren Dachverbänden gibt es inzwischen eingeschliffene Betroffenheitsrituale. Die Forderung nach »lückenloser Aufklärung« darf dabei selbstverständlich nicht fehlen. Aber: Was haben wir mit den bisherigen Strategien, die sich weitestgehend auf Forderungen nach Aufklärung durch staatliche Stellen beschränken, erreicht? Es ist doch offensichtlich geworden: Niemand von den Sicherheitsbehörden kann uns schützen. Was sollten wir also machen, anstatt den unwilligen Behörden beweisen zu wollen, dass die Täter Rassisten waren?

Als betroffene Migrant*innen sollten wir nach rassistischen Attacken den staatlichen Ermittlungsstellen kein Vertrauen mehr schenken und unser Schicksal nicht den Behörden überlassen.

Als betroffene Migrant*innen und antirassistische Aktivist*innen sollten wir nach rassistischen Attacken den staatlichen Ermittlungsstellen kein Vertrauen mehr schenken und unser Schicksal nicht den manipulativen Behörden überlassen. Dies bedeutet, im Falle solcher Morde gleich eine möglichst interdisziplinäre Ermittlungskommission zu gründen und die Ermittlungen parallel und selbstorganisiert in die Hand zu nehmen. Das heißt, diese zivilgesellschaftlich kritisch zu begleiten, unabhängige Recherchen anzustellen und die Ergebnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Unabhängige Kommissionen würden dafür sorgen, den Druck auf die zuständigen Stellen zu erhöhen und den Angehörigen mehr und kontinuierlicheren Beistand zu leisten – anstatt es bei Beileidsbekundungen zu belassen und zur Tagesordnung überzugehen. Wir müssen endlich andere Wege gehen, denn die Nazis lachen über uns, wenn wir uns wie bisher darauf beschränken, lediglich das Übliche zu fordern – wissend, dass unsere Forderungen innerhalb der Blasen der bereits Bekehrten verhallen.

Damit erklären wir unser legitimes Recht, auf dieser Erde gleichberechtigt und solidarisch miteinander zu leben, als gleichwertige und würdige Menschen respektiert zu werden. Wenn wir keine leichte Zielscheibe im feindlichen Hinterland sein wollen, müssen wir dafür aufstehen und kämpfen, die Rechte eines Menschen in dieser Gesellschaft zu bewahren und zu verteidigen, als Ausgeschlossene und Marginalisierte, auf dieser Erde, in diesen Tagen und in Zukunft. Wir müssen dafür geradestehen, unsere existenziellen Rechte mit allen notwendigen Mitteln zu verteidigen.

Dazu gehört auch, dass die Betroffenen von Rassismus ihren Selbstschutz organisieren und Maßnahmen ergreifen, um ihr Leben zu verteidigen, damit sie keine leichte Beute werden. Es muss zur Normalität gehören, dass Migrant*innen das Recht auf Selbstverteidigung zugestanden wird. Wie Malcom X es einst sagte: »By any means necessary.« 

Gürsel Yıldırım

Gürsel Yıldırım ist Soziologe, langjähriger Aktivist der Hamburger Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı (gegründet 2010) sowie Mitbegründer der Initiative zur Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü und der Initiative in Gedenken an Semra Ertan.