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|ak 659 | Soziale Kämpfe

»Ich bin ein Kostenfaktor«

Angst, Scham, Eigensinn: was fehlender Sozialprotest mit den von Armut betroffenen Menschen macht

Von Anne Seeck

Armutsbetroffene leiden vor allem unter Ängsten und Schamgefühlen. Sie besitzen aber einen Überlebenswillen, das heißt, sie entwickeln individuelle Gegenstrategien. Ein Großteil der Linken hat sich von ihnen entfremdet. Gibt es noch Hoffnung?

Angst

Der Soziologe Heinz Bude beschreibt in seinem Buch »Gesellschaft der Angst« die verschiedenen Angsttypen. Die Angst der Gewinner*innen bestehe demnach im Kontrollverlust über das Feld der Konkurrenz. Die gesellschaftliche Mitte befällt eine Statuspanik, da in ihrem Milieu Spaltungstendenzen sichtbar werden. Die meisten Menschen stehen durch die »Pflicht zur Selbstwerdung« unter »Optimierungsdruck«. Den Geringverdiener*innen dagegen schreiben sich Druck und Angst in die Körper ein. Sie befinden sich oftmals am Rand der Erschöpfung.

Ganz ähnlich erläutert der Psychologe Rainer Mausfeld in seinem Buch »Angst und Macht«, wie Angsterzeugung zu einem Herrschaftsinstrument wird. Die Ideologie einer Leistungsgesellschaft, die den Status durch »Leistung« rechtfertigt, erzeuge bei einem großen Teil der Bevölkerung Versagensängste. Diese werden nicht in eine gesellschaftliche Veränderungsenergie umgesetzt, sondern nach innen verlegt. »Die Versagensängste werden zu Binnenängsten, die eine lähmende Scham erzeugen können und dadurch wiederum zu einer Entpolitisierung beitragen«, so Mausfeld.

Scham

Scham verbreitet sich bei den Armutsbetroffenen ebenfalls wie ein Virus. Scham als soziales Gefühl ist in Gesellschaften präsent, in denen soziale Ungleichheit herrscht. In einem Projekt der Armutskonferenz – ein österreichisches Netzwerk gegen Armut und Ausgrenzung – wurden einkommensarme Personen zum Thema Beschämung befragt. Sie berichteten von einem Generalverdacht, dem sie permanent ausgesetzt sind. Es ist die Nichterfüllung gesellschaftlicher Normen, welche die persönliche Scham auslöst: »Ich bin ein Kostenfaktor«, »Ich funktioniere nicht«, »Ich bin eine Belastung für die anderen«. Beschämende Fremdbilder greifen den Selbstwert an.

Eine häufige Folge ist der soziale Rückzug. Orte der Beschämung finden sich fast überall: in Ämtern, Arztpraxen, Krankenhäusern, Schulen, am Arbeitsplatz, Familien, in der Nachbarschaft, in sozialen Einrichtungen, in Presseredaktionen und Pflegeheimen usw. Es handelt sich um Orte, an denen mehr oder weniger subtile Abhängigkeitsverhältnisse und Hierarchien bestehen. Stefan Selke erklärt in seinem Buch »Schamland« die zentrale Funktion von Scham und Beschämung im Kontext der neuen Sozialpolitik (»Fördern und Fordern«): »Durch Beschämungsmechanismen sichern sich die Mächtigen ihren angestammten Platz innerhalb der Gesellschaft. Durch Scham grenzen sich die Ohnmächtigen selbst immer weiter aus.« 

Was können die Armutsbetroffenen aber tun? Auf der individuellen Ebene ist es wichtig, diese Mechanismen zu verstehen. Das kann Menschen dazu bewegen, sich politisch zu engagieren. Auch die gegenseitige Begleitung auf Ämter kann helfen. Ebenso ist der Austausch mit anderen Betroffenen wichtig, in Form von Workshops, Theater oder Musik. Schreiben verschafft Erleichterung. Auch das Durchsetzen von Rechtsansprüchen, das im Idealfall zu wertvollen gerichtlichen Grundsatzurteilen führen kann, bildet einen Baustein der individuellen Gegenwehr, der sich gegebenenfalls kollektiv positiv auswirkt. Auf diese Weise konnte beispielsweise die Sanktionspraxis bei Hartz IV entschärft werden.

Eigensinn

Viele arme Menschen entwickeln Überlebensstrategien außerhalb von Lohnarbeit. So zum Beispiel in der informellen Ökonomie durch Schwarzarbeit. Durch Tricks beim Jobcenter (zum Beispiel durch Krankschreibungen) oder durch massenhafte Klagen bei Sozialgerichten. Der Niedriglohnsektor ist oftmals die einzige Perspektive für Erwerbslose. Das wissen die Langzeitarbeitslosen und entwickeln Gegenstrategien, was viele durchaus zu handelnden Subjekten macht.

Erwerbslose sind eine sehr heterogene Gruppe. Aufgrund von Befragungen wurden diese in verschiedene Gruppen eingeteilt. Bei Klaus Dörre u.a. gibt es neben den »Um-jeden-Preis-Arbeiter*innen« und »Als-ob-Arbeiter*innen« auch die »Nicht-Arbeiter*innen«. Letztere pflegen eine Distanz zur Arbeitswelt und bemühen sich nicht um Erwerbsarbeit. Sie sind aber gesellschaftlich durchaus aktiv (Haus-und Sorgearbeit, künstlerisches Handeln, politisches Engagement). Sozialwissenschaftler*innen wie Gabriele Winker sprechen dabei von einer Gruppe der »Teilautonomen«. Sie nehmen Erwerbslosigkeit als Möglichkeit wahr, ein selbstbestimmtes Leben jenseits von Erwerbsarbeit zu führen. Ihr Leben ist jedoch von einer belastenden Abhängigkeit von der Arbeitsverwaltung und einer prinzipiellen existenziellen Unsicherheit geprägt.

Harald Rein hat im Rahmen seiner Beratungspraxis in einem Frankfurter Arbeitslosenzentrum drei Widerstandstypen ausgemacht, die sich zum Teil überschneiden: die »Überlebenskünstler*innen und Erwerbsarbeitsdissident*innen«, die »selbstbestimmten BezieherInnen von Sozialleistungen« und die »Freiraumschaffer*innen«. Ein nicht unerheblicher Teil Letzterer, so schreibt Rein in seinem Buch »Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen…!«, nutzt die finanziellen Transferleistungen, um in anderen gesellschaftlichen Bereichen politisch aktiv zu werden oder anderen nützlichen Tätigkeiten, nachzugehen.

Entfremdung

Leider zeigt sich dieser Eigensinn nicht kollektiv auf der Straße. Seit 15 Jahren, nach Einführung von Hartz IV, lässt sich beispielsweise in der linken Szene Berlins feststellen, dass die sozialen Kämpfe kontinuierlich abgenommen haben. Es fand ein Entfremdungsprozess zwischen vielen linken Akteuren und Armutsbetroffenen bzw. Marginalisierten statt. Insbesondere die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze haben das Land, die Menschen und die Linke nachhaltig verändert. Während die Linkspartei von den Hartz-IV-Protesten und der Gründung der WASG profitierte – bis zum 18. Oktober 2005 saßen für die PDS nur zwei Abgeordnete im Bundestag –, verbesserte sich die Situation der Hartz-IV-Betroffenen nicht.

Auch akademische Aktivist*innen streben danach, das Beste aus ihrer individuellen prekären Lage zu machen. So versuchten und versuchen manche, im Umfeld der Linkspartei beruflich »unterzukommen«. Ein durchaus verständliches Verhalten, das jedoch zu problematischen Abhängigkeitsverhältnissen führen kann. So dass sich mit Blick auf die außerparlamentarischen Linken fragen lässt, ob das jeweilige Verhalten als rein instrumentell (»Die Linke als berufliches Sprungbrett«) oder authentisch einzustufen ist. Zudem werden in der prekarisierten Lebens- und Arbeitswelt die persönlichen Zeitkapazitäten knapp. Mit der zunehmenden Akademisierung der Linken sickern universitäre Diskursregeln in die allgemeine linke Debattenkultur ein, was zu Sprechverboten, Tabus, noch mehr Szenecodes sowie letztlich zur Entfremdung von vielen Menschen in diesem Land führt.

Aber auch die bürgerliche Herkunft vieler Linker trennt sie zunehmend von den Marginalisierten und auch den Arbeiter*innen. Dabei kämpfen Linke seit bald zweihundert Jahren gegen Ausbeutung und Unterdrückung sowie für soziale Gerechtigkeit. Was aber ist mit den Linken seit den Hartz-IV-Protesten geschehen, dass viele Marginalisierte sich von ihnen nicht mehr angesprochen fühlen? Die Linkspartei wird oft als etabliert wahrgenommen, denn mittlerweile hocken Linke in Landesregierungen und setzen zum Beispiel Hartz IV um. Außerdem ist durch die Fusion der WASG mit der Linkspartei im Jahr 2007 der Protest von der Straße ins Parlament umgelenkt und damit befriedet worden.

Hoffnung

Die Mehrheit der Einkommensarmen, ob erwerbslos oder in der Rente, aber auch die lohnabhängig Beschäftigten, waren in den letzten 15 Jahren nur schwer an der sozialen Frage zu mobilisieren. Das hatte etwas mit den beschriebenen Ängsten und der Scham von Betroffenen sowie dem Zustand der Linken zu tun. Ein wichtige Voraussetzung für Sozialprotest ist allerdings auch ein Vertrauen in die Veränderbarkeit des Bestehenden. Seit 40 Jahren wird mit der neoliberalen Ideologie gebetsmühlenartig die »Alternativlosigkeit« des kapitalistischen Systems beschworen. Zudem sitzt die Frustration und Enttäuschung über die damals gescheiterten Anti-Hartz-IV-Proteste tief, denn die Herrschenden hatten diese Sozialproteste vor mehr als 15 Jahren einfach ausgesessen. Mit der Corona-Krise ändert sich vieles, die soziale Frage rückt wieder in den Mittelpunkt, ebenso die Frage, wie es weitergehen soll. Ein »Weiter so« darf es dabei nicht geben: Sozialstaat und Daseinsvorsorge sind wichtiger denn je.

Und soll es noch Hoffnung für diesen Planeten geben angesichts pandemischer Virengefahren, von Klimawandel, Rechtsruck, sozialer Ungleichheit, Migration und Kriegen, muss das Nachdenken über andere Gesellschaftsmodelle einen neuen »utopischen« Schub erhalten. Auch eine linke Aufarbeitung des »Realsozialismus« ist vor diesem Hintergrund übrigens von zentraler Bedeutung. »Es geht dabei nicht nur um die Frage nach den Mitteln, Wegen und Methoden linker Politik; es geht ebenso um das Ziel linker Politik. Es geht darum, dass eine sozialistische Zukunft eine wirkliche Alternative sowohl zu diesem untergegangenen System des real existierenden Sozialismus als auch zum heutigen Kapitalismus ist.« (1) 

Anne Seeck

ist Autorin und lebt in Berlin.

Anmerkung:
1) Bernd Gehrke, Renate Hürtgen, Thomas Klein (Hg.): »… feindlich-negative Elemente …«. Repression gegen linke und emanzipatorische Bewegungen in der DDR. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2019, Seite 5.