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Festival der Unterdrückten

Helfen Aufstandstheorien, die aktuellen Proteste in den USA zu verstehen?

Von Jan Ole Arps

Eine Menschenmenge vor einem brennenden Polizeigebäude in Minneapolis
Eine Sorge weniger. In Minneapolis feiern Protestierende in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 2020 den Brand der Polizeiwache, in der George Floyds Mörder Dienst taten. Foto: Hungryogrephotos / Flickr, Public Domain

Ein Merkmal der Diskussion um Gewalt im Zusammenhang mit Aufständen und Sozialprotesten ist, dass die Bewertung stark schwankt je nachdem, wo sich die Gewalt ereignet. Brennen in Hongkong Barrikaden, berichten hiesige Medien wohlwollend (und manche Linke verdammen die Gewalt). Ereignet sie sich in den USA, schwanken die Berichte zwischen nachdenklichen Hinweisen auf die ungerechten Zustände und Verurteilungen der Gewalttaten, die den berechtigten Anliegen der friedlich Protestierenden (über die sie ohne Riots nie berichten hätten) Schaden zufügten. Linke posten in solchen Fällen begeistert Bilder ausgebrannter Polizeigebäude.

In Bezug auf die Aufstände in den USA herrscht zumindest Einigkeit, dass es der Mix aus rassistischer Unterdrückung, Polizeigewalt, wachsender Armut und der verächtlichen Politik der US-Regierung in der Corona-Pandemie ist, der seit dem Mord an George Floyd explodiert. Doch die Fragen nach den Beziehungen zu anderen Aufständen klammern die meisten Beschreibungen aus.

Dabei gibt es einige sehr direkte Verbindungen, etwa die Kopie von Protesttechniken aus Hongkong (Laserpointer, Tricks zum Löschen von Tränengasgranten etc.) oder die Tatsache, dass die US-Unruhen auch Proteste in Europa inspirierten. Der Sturz der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston durch Demonstrant*innen in Bristol zieht eine direkte Linie: Colston, der für die Verschleppung von mindestens 84.000 Menschen in die USA und den Tod von mindestens 19.000 Menschen auf den Überfahrten verantwortlich war, gehört wenn überhaupt ins Hafenbecken.

Der moderne Aufstand

Joshua Clover, aktuell der bekannteste Aufstandstheoretiker, vertritt die These, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen beinah allen Aufständen gibt, die wir auf der Welt beobachten können. Seine Argumentation geht grob so, dass für verschiedene Phasen des Kapitalismus verschiedene Formen des Aufbegehrens prägend seien. In der Frühphase sei es die Brotrevolte gewesen: In dem Maße, wie der Markt entscheidend für den Zugang zu Gütern des täglichen Bedarfs wurde, hätten sich Unruhen oft von Marktplätzen aus ausgebreitet und primär in Plünderungen ausgedrückt.

Mit den Umbrüchen seit den 1970ern, die in den früh industrialisierten Ländern viele Lohnabhängige wieder aus den Fabriken vertrieben, beobachtet Clover die Rückkehr des Riots.

Mit der Integration der Eigentumslosen als Lohnarbeiter*innen in die Fabriken habe sich der Schwerpunkt der Kämpfe von der Zirkulationssphäre in die Stätten der Produktion verlagert. Der Streik löste die Brotrevolten ab. Mit den Umbrüchen seit den 1970ern, die die Produktion über den Globus verstreuten und in den früh industrialisierten Ländern viele Lohnabhängige wieder aus den Fabriken vertrieben, beobachtet Clover die Rückkehr von Aufständen, die denen frühkapitalistischer Zeiten ähneln: spontane Revolten, oft begleitet von Plünderungen. Der wesentliche Unterschied zur Brotrevolte bestehe darin, dass sie sich heute meist direkt gegen die Polizei richte, jene Institution, die das wachsende Heer der »Überflüssigen« – oder wie es bei Clover heißt: das Surplus-Proletariat – in Schach hält.

Diese These hat ihren Reiz, allerdings auch Schwächen. So betont Clover zwar, dass es sowohl bei Aufständen als auch Streiks letztlich um die Frage gehe, wie die Eigentumslosen ihr Überleben sichern. Worüber er aber nicht spricht, ist die Verbindung zur Reproduktionssphäre: zur Arbeit im Haushalt, den Beziehungen in der Nachbarschaft, der Re-Produktion des Lebens bzw. der Arbeitskraft.

Zudem stellt sich die Frage, ob Clover den Stellenwert des Rassismus richtig einschätzt oder ihn seiner Großthese vom Aufstand der Surplus-Bevölkerung unterordnet. In seinem Buch »Riot – Strike – Riot« betont Clover, der Kapitalismus sei auf die Produktion von Differenz angewiesen, die Entstehung der Surplus-Bevölkerung daher eng (und notwendig) verbunden mit ihrer Rassifizierung: in den USA mit der überproportionalen Arbeitslosigkeit und der Masseninhaftierung Schwarzer Menschen, die zugleich ein Mittel sei, arme Schwarze vom politischen System auszuschließen. Der Aufstand der rassifizierten Surplus-Bevölkerung nehme daher oft die Form des »Race Riots« an. Sein Kern sei aber ein ökonomischer: die Plünderung und Aneignung von Waren.

Drei Menschen tragen Sachen auf einem verwüsten Parkplatz weg, im Hintergrund ein Graffiti "Black Lives Fucking Matter"
Laut Clover geht es beim Riot im Kern um Plünderung. Stimmt das auch in Minneapolis? Foto (vom Target-Markt in der Lake Street): Lorie Shaull / Flickr, CC BY-SA 2.0

Eine ähnliche Perspektive bietet Keeanga-Yamahtta Taylor in einem Anfang Juni veröffentlichten Essay an, in dem sie Riots ein »Festival der Unterdrückten« nennt und schreibt: »Riots sind nicht nur die Stimme der Ungehörten, wie Dr. Martin Luther King, Jr., es in seiner berühmten Wendung ausdrückte, sie sind der brachiale Eintritt der Unterdrückten in die Politik.«

Taylor argumentiert, dass es nicht ausreiche, rassistische Polizeigewalt zu kritisieren. »Wir müssen die Bedingungen der ökonomischen Ungleichheit diskutieren, die, wenn sie sich mit rassistischer und geschlechtlicher Diskriminierung überschneiden, Afroamerikaner*innen benachteiligen und sie zum Ziel für Polizeigewalt machen.« Mit Blick auf die aktuellen Proteste betont Taylor die Chance und die Notwendigkeit eines übergreifenden Bündnisses der unteren Klassen, jenseits rassistischer Spaltungslinien.

Taylors Text enthält aber auch Hinweise auf Schwarze Aufstände gegen Polizeigewalt seit 1919. So zitiert Taylor eine Petition Schwarzer US-Aktivist*innen vor den Vereinten Nationen von 1951: »Früher geschah das Lynchen durch den Strick. Heute ist es die Polizeikugel. In den Augen vieler Amerikaner ist die Polizei die Regierung, zumindest ihr sichtbarster Repräsentant. Wir erklären hiermit, dass die Beweise den Schluss zulassen, dass die Tötung Schwarzer in den USA die gängige Politik der Polizei geworden ist und dass die Politik der Polizei der praktischste Ausdruck der Politik der Regierung ist.« Hätte der heutige Aufstand sich entwickeln können ohne die lange Geschichte der Kämpfe gegen Rassismus und Polizeigewalt? Ohne die Organisationen, die im ganzen Land gegen Rassismus kämpfen und daran arbeiten, Schwarze Communities zu stärken?

Dass Aufstände »Festivals der Unterdrückten« sind, lässt sich aktuell in den USA gut belegen. So beobachten Augenzeug*innen eine (unbewusste) Arbeitsteilung zwischen den Protestierenden und den Rioters in Minneapolis, die auch in einer räumlichen Trennung zum Ausdruck kam. Während die »politischen« Demonstrant*innen sich im Stadtzentrum versammelten, strömten die Rioters zum Polizeipräsidium und setzten es nach zweitägiger Belagerung und Plünderungen in den umliegenden Straßen in Brand.

Beziehungen im Aufstand

Die Kluft zwischen wütenden Ausgeschlossenen und organisiertem Protest wurde schon bei früheren Aufständen gegen rassistische Polizeimorde beschrieben, etwa 2014 in Ferguson. Bemerkenswert diesmal sei das wachsende gegenseitige Verständnis. Die Frage ist, ob sich in der neuen Protestwelle eine neue Beziehung zwischen organisierten Protesten und wütenden Aufständen andeutet?

Clover beschreibt die aufständische »Klasse an sich« – aber vernachlässigt, auf welche Weise sie zur »Klasse für sich« wird.

Das Überspringen der Proteste und Riots auf fast alle großen US-Städte ist kaum vorstellbar ohne die Black-Lives-Matter-Proteste der Jahre 2013 bis 2016. In ihnen hat sich ein übergreifendes Schwarzes Klassenbewusstsein geschärft, an das die, die jetzt auf der Straße sind, anknüpfen. Das USA-weite Netzwerk ermöglichte auch, dass Proteste heute überall binnen weniger Stunden oder Tage zustande kamen – damit schuf es die Bedingungen, unter denen sich die landesweiten Riots überhaupt entwickeln konnten.

Insofern ist die vielleicht größte Leerstelle Clovers, dass er nur den »passiven« Zusammenhang der Aufstände beschreibt, vor allem jene Beziehung, die das Kapital zwischen den Kämpfen stiftet. Die aktiven Beziehungen, die Protestierende und Plündernde herstellen (und auch die, die sie noch nicht herstellen), die Solidarität, aber auch die Rolle, die die Geschichte ihrer Kämpfe spielt, bleiben im Dunkeln. Clover beschreibt die aufständische »Klasse an sich« – aber vernachlässigt, auf welche Weise sie zur »Klasse für sich« wird.

Wenn wir in diesem Sinn daran interessiert sind, aus dem Aufstand zu lernen, sollten wir den Blick nicht nur auf die brennenden Geschäfte und Verwaltungsgebäude richten, sondern auch darauf, wie die Protestierenden vor Ort mit den Ereignissen umgehen, welche Konflikte sie führen und welche Beziehungen sie aufbauen, die vielleicht nicht mit spektakulären Bildern vermarktbar sind, aber den Widerstand am Leben halten und weitertragen, wenn die Brände gelöscht sind.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.