analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 658 | Deutschland

Für ein neues 2015

Unser Teil der Geschichte darf nicht durch rechte Narrative enteignet werden - wir brauchen grenzüberschreitende Solidarität

Von Christoph Kleine

2015 engagierten sich spontan Millionen Menschen in Deutschland um Geflüchtete Willkommen zu heißen. Foto: Ilias Bartolini / Flickr, CC BY-SA 2.0

Angela Merkel hat es gesagt, Alexander Gauland von der AfD hat es gesagt, und Sevim Dagdelen von der Linkspartei hat es gesagt: »2015 darf sich nicht wiederholen.« Bei extremen Rechten, bei der bürgerlichen Mitte und bei nationalstaatsorientierten Linken gilt »2015« als Chiffre für den Verlust der staatlichen Kontrolle der Grenzen, für ungezügelte Masseneinwanderung und für eine drohende Überlastung der Sozialsysteme.

Über das Jahr 2015 war die Zuwanderung deutlich angestiegen. Immer mehr Menschen kamen nach oft lebensgefährlicher Überfahrt entweder in Italien oder Griechenland an. Beschleunigend wirkte dabei die dramatische Unterversorgung in den vom UNHCR betriebenen Flüchtlingslagern rund um Syrien, die Menschen zur Fortsetzung ihrer Flucht drängte. Das Dublin-System der EU, demzufolge Asylanträge und Asylverfahren im Ankunftsstaat durchzuführen sind, kam an seine Grenzen und wurde sowohl von Italien wie Griechenland dadurch unterlaufen, dass die Ankommenden schlecht versorgt, aber an der Weiterreise nach Norden nicht gehindert wurden.

Symbolischer Start des »Summer of Migration« war der 4. September 2015, als Tausende Geflüchtete vom Bahnhof Keleti in Budapest (Ungarn) zum »March of Hope« aufbrachen. Zu Fuß zogen sie nach Norden in Richtung der österreichischen Grenze, um den Misshandlungen durch die ungarischen Sicherheitsbehörden zu entkommen und ihre Weiterreise durchzusetzen. Österreich und Deutschland erklärten am Abend des 4. September gemeinsam, dass die Geflüchteten unbehindert einreisen könnten. Damit war die Balkanroute offen – und wurde in der folgenden Zeit von Hunderttausenden auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben genutzt. Entgegen der modernen Dolchstoßlegende, dass Angela Merkel die Grenzen geöffnet habe, war im Sommer 2015 lediglich ein derartig offener Bruch aller Maßstäbe von Humanität und der internationalen Abkommen zum Flüchtlingsschutz, wie er gegenwärtig an der türkisch-griechischen Grenze praktiziert wird, politisch nicht durchsetzbar.

In Wirklichkeit handelt die Geschichte von 2015 vom Zusammenkommen zweier großer Bewegungen: Erstens der Bewegung der Menschen auf der Flucht, die mit Entschlossenheit und verzweifeltem Mut Grenzen überwunden und ihre Bewegungsfreiheit durchgesetzt haben. Und zweitens der Bewegung der Solidarität, in der sich Millionen von Menschen engagierten, um Unterkünfte zu schaffen, Essen zu verteilen, Kleider zu sammeln und auszugeben, medizinische Hilfe zu organisieren, zu dolmetschen, Sprachkurse zu organisieren. Die »Willkommenskultur« war keine Phrase, sondern eine gesellschaftliche Realität.

Eine kleine, aber zu schwache Revolution

Es war eine kleine Revolution. Was jahrelang als sicher galt, wie die Abschottung der Grenzen, die möglichst genaue Kontrolle der Migrationsbewegungen, ja selbst die Durchsetzung der Fahrkartenpflicht in der Deutschen Bahn, galt nicht mehr. Anfang September kamen in vielen deutschen Städten Tausende von Geflüchteten an – sie wurden an den Bahnhöfen beklatscht und begeistert empfangen. Natürlich waren die staatlichen Strukturen überfordert und haben vieles auf die Ehrenamtlichen abgewälzt. Aber genau darin lag auch die Faszination und die Energie jener Zeit. Solidarität und Eigeninitiative sind eine mächtige Kraft – das ist eine Erfahrung, die bleiben wird.

Das Leben in einer abgeschotteten Festung, vor deren Mauern die Menschen ertrinken, verändert und belastet auch diejenigen, die in dieser Festung leben; auch wenn sie zum Teil an den Privilegien partizipieren, die mit dem Grenzregime verteidigt werden. Der europäische Mauerfall 2015 war eine Befreiung: für die Menschen, die endlich Bewegungsfreiheit hatten, aber auch für uns alle.

Aber wie nach jeder zu schwachen Revolution schlug die Konterrevolution massiv zurück. Schrittweise wurde die Balkanroute bis zum Frühjahr 2016 wieder geschlossen. Am 16. März 2016 wurde das EU-Türkei-Abkommen verkündet, mit dem die EU den türkischen Autokraten Erdogan zum Torwächter ernannte und die »HotSpots« auf den griechischen Inseln beschlossen wurden. In Deutschland – wie in vielen anderen EU-Staaten – gab es zahlreiche Runden zur Verschärfung des Asylrechts, Debatten um »Obergrenzen« und eine massiv einsetzende Hetze gegen die neu Eingewanderten – insbesondere nach der Kölner Silvesternacht 2015/2016.

Die Solidaritäts- und Willkommensbewegung hatte trotz ihrer zahlenmäßigen Größe diesem rechten Backlash wenig entgegenzusetzen. Sie war beschäftigt mit der Unterstützung vor Ort, hatte keine gemeinsame politische Agenda, keine Orte, sich auszutauschen und Gegenwehr zu organisieren. Und die meisten Geflüchteten hatten genug damit zu tun, in ihrem neuen Leben anzukommen, eine Wohnung zu suchen, Arbeit zu finden oder Sprachkurse zu besuchen. So blieb das politische Feld weitgehend den Feind*innen der Solidarität überlassen, und es entstand jene fatale Dynamik aus Wahlerfolgen der AfD und staatlichen Maßnahmen, die immer mehr der extrem rechten Forderungen umsetzte.

Aber wir als Linke sollten uns davor hüten, die Legende von der Migration, die den Faschismus stärken würde, am Ende noch selbst zu glauben. Die Dynamik des rechten Backlashs ging vor allem von oben, vom Staat, von den Institutionen und den bürgerlichen Parteien aus. Die AfD hat hiervon profitiert, die Situation ausgenutzt und weiter befeuert. Ob die maximal 20 Prozent unverbesserlichen Rassist*innen, die es seit Jahrzehnten stabil gibt, wirkungsmächtig werden oder nicht, hängt von zwei Faktoren ab: den politischen Entscheidungen der herrschenden Klasse – und von der organisierten Gegenwehr der linken und solidarischen Kräfte.

Und genau deshalb brauchen wir #mehr2015 und dürfen uns diesen Teil unserer Geschichte nicht enteignen lassen: Weil ein solidarischer Aufbruch immer auch ein linker Aufbruch ist – und weil eine Linke, die in der praktischen, grenzüberschreitenden Solidarität versagt, überflüssig ist.

Christoph Kleine

ist aktiv in der Hamburger Ortsgruppe der Interventionistischen Linken.