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|Thema in ak 659: Corona-Pandemie

Untergegangen im Ausnahmezustand

Bernie Sanders hat seine Wahlkampagne beendet – Unterstützer*innen kämpfen weiter

Von Loren Balhorn

Bernei Sanders am Rednerpult vor einem Haufen Bernie-Wahlkampfschildern.
Ernüchterung: Die Pandemie-Krise spielte Sanders nicht in die Karten. Foto: Jackson Lanier / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Vermutlich kein Land im Globalen Norden war schlechter auf das Corona-Virus vorbereitet als die USA, wo mehr als 40 Millionen Bürger*innen keine Krankenversicherung und somit keinen Zugang zum Gesundheitswesen haben, der Wohlfahrtsstaat in vielen Bereichen völlig weggekürzt wurde und der Präsident sich bis März weigerte, die Bedrohung überhaupt zu erkennen.

Mittlerweile sind mehr Menschen in den USA an Covid-19 gestorben als in jedem anderen Land der Welt. Die USA sind unbestritten das Epizentrum der Pandemie geworden, deren Höhepunkt noch lange nicht erreicht ist.

Vor sechs Wochen, als die ersten Infektionen im Land bekannt wurden, sah alles noch ganz anders aus. Der Beginn der demokratischen Vorwahlen, die bestimmen, wer im November Donald Trump herausfordert, standen kurz bevor. Bei den ersten drei siegte der bekennende Sozialist Bernie Sanders – ein historisches Novum –, und für eine kurze Zeit fühlte es sich so an, als könnte er tatsächlich gewinnen und das Land in ein neues Zeitalter führen.

Hoffnung und Ernüchterung

Die politische Ernüchterung, die nach seinen herben Niederlagen am 3. März, dem »Super Tuesday«, begann und nun mit seinem Rückzug aus dem Rennen am 8. April endgültig einsetzte, verlief parallel zu der rapiden Verbreitung des Virus und dem drastischen Zurückfahren des öffentlichen Lebens. Ab der zweiten Märzwoche waren Wahlkampftritte sowie der in den USA weitverbreitete Haustürwahlkampf unmöglich. Die größten Stärken der Sanders-Kampagne – Massenveranstaltungen mit Zehntausenden im Publikum und eine Armee von Millionen Freiwilligen – waren praktisch außer Kraft gesetzt.

Sowohl Sanders als auch mit ihm verbündete linke Organisationen wie die Democratic Socialists of America (DSA) reagierten auf die Pandemie mit wesentlich mehr Ernsthaftigkeit als Präsident Trump, der noch bis in den März hinein das Virus verharmloste. Sie nahmen die Gefahr auch ernster als Sanders‘ Hauptkonkurrent Joe Biden, der am 7. April die Vorwahl in Wisconsin als »sicher« bezeichnete, obwohl klar war, dass sie unter diesen Bedingungen nur eine Farce sein konnte.

Die Sanders-Kampagne steuerte derweil um und setzte ihre gigantische Kontaktdatenbank ein, um Anhänger*innen und Wähler*innen über das Virus zu informieren und Sanders‘ Forderungen nach einem Rettungspaket für Lohnabhängige und Arme zu verbreiten. Im Senat konzentrierte er sein Feuer auf das Konjunkturpaket in Höhe von 2,2 Billionen US-Dollar, das Ende März verabschiedet wurde – und sorgte immerhin dafür, dass zusätzliche 600 Dollar pro Monat für Arbeitslose in das Gesetz aufgenommen wurden. Im Fernsehen und in mehreren Livestreams mit hochkarätigen Gästen weigerte er sich, über Wahlarithmetik zu spekulieren. Stattdessen stellte er die politischen Maßnahmen heraus, die dringend gebraucht werden, um eine solidarische Antwort auf die Corona-Krise zu finden.

Die Pandemie hätte eigentlich die beste Folie sein müssen für Sanders, um zu zeigen, wie dringend notwendig das Land sein Reformprogramm braucht.

Die DSA verschicken seit Mitte März mehrmals die Woche ein Covid-19-Bulletin, das Leser*innen ausführlich über die Verbreitung des Virus aufklärt und politisch analysiert. Über Livestream-Sendungen zusammen mit verschiedenen linken Medien werden Arbeitskämpfe, das Gesundheitswesen und andere Themen diskutiert, um Mitglieder weiterhin einbinden und mit politischen Argumenten ausstatten zu können. Obwohl nur kleine, zarte Pflänzchen: Ein neues Projekt der DSA zielt auf die Organisierung von Gastronomiearbeiter*innen, die in den USA besonders prekären Bedingungen ausgesetzt sind und waren, schon vor Corona.

Die Pandemie hätte eigentlich die beste Folie sein müssen für Sanders, um zu zeigen, wie dringend notwendig das Land sein Reformprogramm braucht. Doch die letzten Vorwahlen erweiterten Joe Bidens Vorsprung und machten deutlich, dass Sanders‘ Aussichten auf die Kandidatur eher düsterer wurden im Verlauf der Krise. Viele US-Amerikaner*innen scheinen eher Angst vor großen Veränderungen mitten in einer Krise zu haben, wie etwa die steigende Zustimmung für Trump nahelegt, und votierten eher für den altbekannten Biden. Mit ihm an der Macht oder gar vier weiteren Jahren unter Trump wird die Krise die bereits Schwachen treffen, die sich am wenigsten wehren können.

Jenseits der gesundheitlichen Katastrophe, die das Land gerade überrollt, zeichnet sich eine desaströse Situation am Arbeitsmarkt ab. Anders als in Europa, wo viele Staaten durch Maßnahmen wie Kurzarbeit die wirtschaftlichen Folgen der Krise zumindest temporär gemildert haben, steigt die Arbeitslosigkeit so schnell wie noch nie in der Geschichte. Mitte März bis Anfang April meldeten sich über 17 Millionen US-Amerikaner*innen arbeitslos. Manche Ökonomen spekulieren, dass bis Sommer die Arbeitslosigkeit undenkbare 30 Prozent erreichen könnte. Solche Zahlen gab es zum letzten Mal während der Großen Depression in den 1930er Jahren.

Arbeitslosigkeit steigt so schnell wie noch nie

80 Prozent aller US-amerikanischen Arbeitsplätze sind mittlerweile im Dienstleistungssektor – genau jener Branche, die am härtesten von der Krise betroffen ist. Eine wesentliche Ausnahme dabei ist Amazon, der gigantische Onlinehändler, der über 800.000 Menschen beschäftigt und in den letzten Wochen weitere 100.000 anheuerte. Da die meisten Läden nun geschlossen sind, sind immer mehr Menschen auf Versanddienste angewiesen, um ihren Alltagsbedarf zu decken. Gleichzeitig schaffen die Entlassungswellen eine enorme Reserve an Arbeitskräften, die Amazon anzapfen kann.

Der Druck auf Amazon-Angestellte, trotz Corona und Ansteckungsgefahr weiter zu arbeiten, führte bereits zu Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen an mehreren Orten. Auch in Detroit konnten Busfahrer*innen erfolgreich für erhöhte Schutzmaßnahmen streiken. Doch insgesamt ist die US-amerikanische Gewerkschaftsbewegung kaum in der Lage, aus dem kommenden Sturm einen Ausweg zu bieten. Aus den zwei Präsidentschaftskampagnen von Bernie Sanders ist zwar eine neue, dynamische Linke hervorgegangen, aber sie ist noch weit davon entfernt, ihre Agenda politisch umsetzen zu können. Jetzt, da Sanders weg vom Fenster ist und das Land in einer Krise bisher unbekannten Ausmasses steckt, wird es umso schwieriger.

Loren Balhorn

Loren Balhorn ist Redakteur des deutschsprachigen Jacobin-Magazins.