analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|Thema in ak 658: Migrantifa

Grenzen des deutschen Antifaschismus

Selbstorganisierten migrantischen Widerstand gab es schon immer – bei der Solidarität der weißen Linken hapert es noch

Von Ayesha Khan

Am 19. Februar 2020 ermordete ein rechtsextremer Terrorist aus rassistischen Motiven neun Menschen in Hanau. In Gedenken an Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Vili Viorel Păun. Dieser Text ist für sie, ihre Familien – und für uns.

Viele von uns kennen die Attentate, Pogrome und Brandanschläge von Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda aus den Erzählungen unserer Eltern oder älteren Geschwister. Es gibt eine Kontinuität rechten Terrors und rassistischer Gewalt in Deutschland, und das nicht erst seit den NSU-Morden der 2000er. Und schon 1993, nach den rassistischen Morden von Mölln und Solingen, gab es Streikaufrufe von selbstorganisierten Initiativen, wie am 2. Juni 1993 in Hamburg.

Ende der 1980er wurde in Berlin die Antifaşist Gençlik (Antifaschistische Jugend) gegründet. Schnell bildeten sich deutschlandweit weitere Gruppen. Sie verstanden sich als Schnittstelle von migrantischer, zumeist türkischer und kurdischer Vereinskultur, Jugendbanden und linker und antifaschistischer Politik. Nur wenige Jahre später mussten sich die Strukturen aufgrund von staatlicher Repressionen auflösen. Ähnliche Bestrebungen gab es mit Kanak Attak oder in Hamburg mit FeMigra und Café Morgenland. Selbstorganisierten migrantischen Widerstand gab es schon immer in Deutschland, aber besonders in den 1990ern war er sehr präsent und kraftvoll.

Widerstand im virtuellen Raum

Die Solidarität deutscher Linker findet oft ihre Grenzen, wenn Kritik an Strukturen sie persönlich trifft und dann so richtig weh tut. Dies lässt sich besonders in den sozialen Netzwerken wie Twitter, Facebook oder Instagram beobachten: Forderungen migrantischer Gruppen werden entweder nicht ernst genommen oder gar umgedeutet. Wer das Wort »Alman« benutzt, sieht sich plötzlich dem Vorwurf »Rassismus gegen Deutsche« ausgesetzt. Als die ersten BIPoC-Netzaktivist*innen 2015 den Slogan »AfD bleibt haram« nutzten, warfen ihnen weiße Linke »islamofaschistoiden« Sprachgebrauch vor. Weiße Menschen, die sich »FCKAFD« und »Refugees Welcome« in ihre Profile schreiben, tone policen dann von Rassismus betroffene Menschen. Tone Policing – das ist, wenn der Fokus vom Inhalt des Gesagten auf den Ausdruck verschoben wird. Eine gängige Ablenkungstaktik von Menschen, die sich nicht mit der eigentlichen Kritik befassen wollen und deshalb eine andere Diskussion beginnen.

Dass Machthierarchien aus dem realen Leben auch online existieren, wird von vielen Menschen, die nicht davon betroffen sind, einfach ausgeblendet. Auch in virtuellen Räumen müssen marginalisierte Menschen für Sichtbarkeit kämpfen. Für viele dieser Menschen ist das Netz, Facebook, Instagram, Twitter und Co., die einzige Möglichkeit, an Diskurs und Debatten teilzunehmen. Für marginalisierte Menschen, für Frauen, BIPoC, LGTBQI und behinderte Menschen ist jede Diskussion über ihre Lebensrealität verbunden mit Traumata, Schmerz und der Gefahr, dass ihnen Gewalterfahrungen abgesprochen werden.

Die widerständige Praxis ist Teil unserer Existenzen geworden, da wir Unterdrückung nicht einfach hinnehmen und die Solidarität untereinander das ist, was uns bleibt, wenn wir uns auf den Rest der Gesellschaft nicht verlassen können.

Nicht erst seit dem 19. Februar 2020 ist migrantischen, Schwarzen, muslimischen und jüdischen Menschen in Deutschland bewusst, dass jetzt Kräfte gebündelt werden müssen. Doch noch immer stehen die Organisator*innen, Aktivist*innen und Gruppenmitglieder vor den gleichen Hindernissen: Repressionen durch den Staatsapparat, Gefahr durch Rechts, Heterogenität und Konflikte innerhalb der Gruppen und eine weißdeutsche Linke, die damals wie heute internalisierten Rassismus nicht reflektiert. Dies erschwert abermals eine Zusammenarbeit, auch wenn allen bewusst ist, dass antifaschistischer Widerstand ohne Solidarität nicht funktioniert.

Solidaritätsbekundungen reichen nicht

Doch Solidaritätsbekundungen allein, Lichterketten und Mahnwachen reichen nicht aus. Jede Form von Solidarität, Aktivismus und Gedenken ohne Einbeziehung von Opfern, Betroffenen, deren Nachkommen und Angehörigen, ist Selbstdarstellung und Profilierung – und ist abzulehnen.

Spätestens nach Hanau müsste ein Umdenken stattfinden: Perspektiven, Erfahrungen, Wissen und Arbeit von Menschen, die Formen von Rassismus und Antisemitismus erfahren, müssen im Mittelpunkt von antifaschistischem Aktivismus und antifaschistischer Politik stehen.

Besonders die deutsche Linke sollte aus dem NSU-Komplex gelernt haben. Es sei daran erinnert, dass die Angehörigen von Halit Yozgat bereits im Mai und Juni 2006 Schweigemärsche in Kassel und Dortmund organisierten. Unter dem Motto »Kein 10. Opfer« gingen 4.000 Menschen aus überwiegend migrantischen Communities auf die Straßen. Auch anwesend waren die Angehörigen von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık. Schon 2006 lautete die Forderung: Aufklärung der Mordserie. Denn damals standen immer noch Angehörige der Opfer im Mittelpunkt der Ermittlungen, obwohl es Hinweise auf den NSU gab. Das Schweigen und die Abwesenheit der deutschen Linken bei den Schweigemärschen hat sich für immer in die Köpfe der Betroffenen eingebrannt.

Ob #unteilbar oder #wirsindmehr – Lippenbekenntnisse der Mitte reichen schon lange nicht mehr. Schon viel zu lange beklagen und warnen Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, vor rassistischer und antisemitischer Gewalt und Terror. Doch bis heute folgen keine politischen Konsequenzen. Bis heute müssen Menschen in Angst und Trauer leben, weil weder der Staat, noch die Zivilgesellschaft es schaffen, ihnen eine gleichberechtigte Existenz in Würde in Deutschland zu garantieren.

Gleichberechtigt bedeutet auch, dass die deutsche Linke migrantische Selbstorganisationen und Aktivist*innen, Organisationen Schwarzer Menschen und Geflüchteter und ihre Forderungen als ebenbürtigen Teil des Widerstandes im Kampf gegen die Faschisierung Deutschlands betrachtet, sich mit ihnen solidarisiert, die nötige Infrastruktur bereitstellt und sich nicht von ihnen abwendet, weil ihnen der Ton ihrer Forderungen nicht gefällt.

Antifaschistische Arbeit erfordert Selbstorganisation und Selbstverteidigung marginalisierter Menschen. Es muss antifaschistischer Konsens sein, dass migrantische Perspektiven elementarer Bestandteil antifaschistischer Politik sind. Vor allem muss die deutsche Linke raus aus den Hörsälen und Lesekreisen und sich nicht nur theoretisch dem proletarischen Internationalismus verpflichten, sondern auch in ihrer politischen Praxis. Seid solidarisch und unterstützt migrantische Kämpfe, wo immer ihr auf sie trefft.

Ayesha Khan

ist Social-Media-Redakteurin, Journalistin und freie Autorin.