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Mit aller Gewalt gegen Linke

Misshandlungen im Polizeigewahrsam und langjährige Haftstrafen sind feste Bestandteile von Russlands »Antiterrorkampf«

Von Ute Weinmann

Nicht zimperlich: Mitglieder des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Foto: SpetsnazAlpha / Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Als im Oktober und November 2017 mehrere junge Männer in der über 600 Kilometer südöstlich von Moskau gelegenen russischen Stadt Pensa festgenommen wurden, blieben landesweite Schlagzeilen aus. Dabei soll, so die offizielle Lesart, der Staatsschutz dort gleich ein ganzes Terrornetzwerk aufgedeckt haben. Nicht nur über die Hintergründe lagen äußerst fragmentarische Hinweise vor, auch hinsichtlich der Vorgehensweise des ermittelnden Inlandsgeheimdienstes FSB zeichnete sich kein klares Bild ab. Damit unterschied sich der Fall zunächst wenig von zahlreichen anderen, über die sich aus der staatlichen Medienberichterstattung nur bedingt aufschlussreiche Informationen entnehmen lassen.

Öffentliche Aufmerksamkeit wurde der Geschichte rund um das sogenannte »Netzwerk« erst zuteil, nachdem drei vermeintliche Angehörige weiterer »Terrorzellen« in St. Petersburg verhaftet worden waren und einer von ihnen, Viktor Filinkow, von Misshandlungen durch Elektroschocks berichtete. Seine Darstellung konnte nicht einfach abgetan werden. Das lag daran, dass sein Verschwinden im Freundeskreis Besorgnis ausgelöst hatte und zwei Angehörige einer unabhängigen Aufsichtskommission, die über die Zustände in Haftanstalten wacht, Filinkow zeitnah in Untersuchungshaft aufsuchten und dort notdürftig die zurückgebliebenen charakteristischen Spuren an seinem Körper dokumentierten. Zudem unterzogen die FSB-Ermittler einen Zeugen dem gleichen Verfahren. Ihre Schlussfolgerung: Bei den gleichmäßig verteilten Punkten auf der Haut könnte es sich um »Wanzenbisse« handeln.

Einige der Terrorverdächtigen in Pensa, die allesamt dem antifaschistischen und anarchistischen Spektrum angehören, erklärten daraufhin, ebenfalls gefoltert worden zu sein, Dmitrij Ptschelinzew sogar mehrmals. In detaillierter Form legte er dar, wie er durch Stromschläge gefoltert wurde. Dafür wurde er in einen leerstehenden Block auf dem Gefängnisgelände gebracht, den er ebenfalls ausführlich beschrieb und in einer Skizze festhielt. Seine Angaben hätten sich durch eine nach den Regeln von Recht und Gesetz durchgeführte Untersuchung leicht bestätigen oder gegebenenfalls widerlegen lassen. Stattdessen beschränkten sich die zuständigen Polizeiorgane im Wesentlichen auf eine Befragung der mit den Strafermittlungen gegen das »Netzwerk« beauftragten Beamten.

Militarisierte Gesellschaft

Es ist davon auszugehen, dass es sich bei körperlichen Misshandlungen in Polizeigewahrsam nicht um einzelne Exzesse handelt. Befinden sich Betroffene in Freiheit, haben sie zumindest die Möglichkeit, sich unmittelbar im Anschluss an den Arrest einer eingehenden medizinischen Untersuchung zu unterziehen. In Haftanstalten besteht diese Option nur sehr eingeschränkt oder gar nicht. Deshalb stößt die Verifizierung entsprechender Klagen Inhaftierter schnell an Grenzen. Dass es, wie im Sommer 2018 in einer Strafkolonie in Jaroslawl, einer Menschenrechtsanwältin gelingt, an Videoaufnahmen mit Folterszenen aus Haftanstalten heranzukommen und eine strafrechtliche Aufarbeitung durchzusetzen, ist die absolute Ausnahme.

Problematisch ist auch das Strafrecht an sich, das durch seine vagen Formulierungen zum Rechtsmissbrauch geradezu einlädt.

Dass in einer militarisierten Gesellschaft wie Russland gefoltert wird, muss nicht verwundern. Weder hat das Land je die Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet noch die aus den Kriegen in Afghanistan, Tschetschenien, der Ukraine oder Syrien. Desaströse Folgen für das gesellschaftliche Gesamtgefüge gehen insbesondere auf die langjährige Praxis zurück, nicht nur Militärs, sondern auch Polizeikräfte zu regelmäßigen Einsätzen in den Nordkaukasus zu entsenden. Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung standen und stehen fast immer die »heldenhaften« Seiten militärisch ausgetragener Konflikte, während die Abgründe im kollektiven Gedächtnis bestenfalls ein Randdasein fristen, was irgendwann in unkontrollierte Gewaltausbrüche mündet.

Auch der jahrelang ausgetragene Straßenkrieg russischer Neonazis gegen Minderheiten und Antifas muss zumindest teilweise vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Tausende vor allem junge Männer werden in sogenannten militärpatriotischen Klubs wehrtauglich gemacht. Die in Pensa und St. Petersburg Angeklagten verbanden nicht nur alternative politische Ansichten, sondern ihr Faible für das militärische Kampfspiel Airsoft. Dmitrij Ptschelinzew begann sich während seines Armeedienstes für Waffen zu interessieren und arbeitete später als Schießtrainer.

Während in Russland die Zahl der lange Zeit fast schon inflationsartig erhobenen Extremismusvorwürfe zurückgeht, nehmen Verurteilungen wegen Terrorismusdelikten zu. Im Jahr 2018 kam es zu Urteilen gegen 700 Personen. Anschläge bilden nur selten den Ausgangspunkt für Strafverfahren; meistens beziehen sich die Vorwürfe auf Werbung, Finanzierung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder deren öffentliche Billigung und Aufrufe zu terroristischen Handlungen. Nicht zuletzt lässt sich diese Tendenz auf eine gestärkte Machtstellung des FSB zurückführen, in dessen Zuständigkeit der Kampf gegen Terrorismus fällt.

Problematisch ist jedoch auch das Strafrecht an sich, das durch seine vagen Formulierungen zum Rechtsmissbrauch geradezu einlädt. Paragraf 205.4, der den Prozessen in Pensa und Petersburg zugrunde liegt, wurde erst 2013 eingeführt. Danach reicht es aus, eine Gruppe von Personen ausfindig zu machen, die sich zum Ziel gesetzt hat, einen Terroranschlag ausführen zu wollen. Der Nachweis konkreter Bemühungen und Schritte zur Vorbereitung einer solchen Straftat muss nicht erbracht werden. Da sich 2017 die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft und die davor abgehaltenen Präsidentschaftswahlen als Anlass anboten, sahen es die Ermittler*innen als erwiesen an, dass das »Netzwerk« konkrete Handlungen gegen diese Ereignisse unternehmen würde. Die Aburteilung von Krimtataren und anderen als Mitglieder der verbotenen islamistischen Organisation Hizb-ut Tahrir Angeklagten erfolgt nach Paragraf 205.5 einem noch einfacheren Schema – hier reichen dringende Verdachtsmomente der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, die im Übrigen nie auch nur einen Anschlag verübt hat. Über 200 Urteile wurden bislang gegen ihre angeblichen Mitglieder verhängt mit Haftstrafen bis zu 24 Jahren. Bei Raub, Totschlag oder Mord verhängt die russische Justiz mildere Strafen als für angeblichen Terrorismus.

18 Jahre Strafkolonie

Trotz der vor wenigen Jahren gefällten Entscheidung des Obersten Gerichts, wonach ein Schuldeingeständnis nicht als einziger Nachweis für eine Verurteilung Angeklagter dienen darf, bildet dieses in Russland häufig die Grundlage für Verfahren, was zudem die Beschaffung weiterer belastender Beweismittel erleichtert. Auch von den in Pensa und St. Petersburg vor Gericht stehenden Antifaschist*innen und Anarchist*innen haben die meisten zu Beginn unter physischer oder psychologischer Gewaltanwendung die vom FSB geforderten Aussagen geliefert, später jedoch größtenteils widerrufen. Angesichts einer viel zu schwachen Gegenöffentlichkeit bleibt eine Skandalisierung dieser gängigen Praxis meist aus.

Insofern kommt dem »Netzwerk«-Fall enorme Bedeutung zu, denn hier wurde zumindest Folter offen thematisiert. Nach dem Urteilsspruch am 10. Februar in Pensa – in St. Petersburg wurde erst im Anschluss daran der Prozess gegen Viktor Filinkow und Julij Bojarschinow nach fast neunmonatiger Unterbrechung wieder aufgenommen – ließ sich eine Welle der Empörung beobachten, wie es sie selbst bei den eindeutig politisch motivierten Verfahren nach dem Moskauer Protestsommer von 2019 nicht gab. Dmitrij Ptschelinzew wurde zu 18 Jahren Strafkolonie verurteilt, die Mitangeklagten zu Haftstrafen zwischen sechs und 16 Jahren. 

Dass Folter und Terrorismusprozesse in den Fokus rücken und jenseits einer überschaubaren Gruppe an gesellschaftskritischen Kräften für lautstarke Empörung sorgen, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ob der öffentliche Druck ausreicht für eine eingehende Prüfung der Foltervorwürfe und eine Revision des Urteils -, sollte die Justiz zu dem Schluss kommen, dass die Geständnisse der Beschuldigten durch gesetzwidrige Maßnahmen zustande gekommen sind, steht auf einem anderen Blatt.

Ute Weinmann

ist freie Journalistin. Sie lebt in Moskau.